Baisingen Friedhof 154.jpg (62551 Byte)  Segnende Hände der Kohanim auf einem Grabstein in Baisingen


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Neustadt im Odenwald (Stadt Breuberg, Odenwaldkreis)
Jüdische Geschichte / Synagoge

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Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde (english version)     
   
In dem bis 1806 den Fürsten Löwenstein-Wertheim-Rosenberg (zuvor auch meist zu einem Viertel den Herren von Eppstein-Breuberg) unterstellten Neustadt im Odenwald bestand eine jüdische Gemeinde bis nach 1933. Ihre Entstehung geht in die Zeit des 18. Jahrhunderts zurück, doch lebten bereits in früheren Jahrhunderten einzelne jüdische Personen am Ort (15./16. Jahrhundert). 1437 ist von Neustadt ein Jude nach Babenhausen übersiedelt. 1469 lebten wenigstens vier erwachsene jüdische Männer, vermutlich Familienhäupter, am Ort. Drei von ihnen, die als judenburger bezeichnet wurden, sind damals einer Hostienschändung beschuldigt und verhaftet worden und schworen bei ihrer Freilassung dem Grafen Wilhelm I. von Wertheim Urfehde auf 'Moses Buch'. 
   
Einzelne Juden werden auch im 17. Jahrhundert am Ort genannt. 
     
Zeitweise waren vermutlich schon im 15. Jahrhundert Einrichtungen wie ein Betraum, sicher ein jüdischer Friedhof vorhanden. Dieser - judenkirchhoff - genannt, lag zwischen Schloss und Stadt und wird 1554 erstmals in einem Zins- und Gülteverzeichnis erwähnt. 1751/52 wird ein judenacker gleichfalls zwischen Schloss und Stadt genannt).      
  
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Zahl der jüdischen Einwohner wie folgt: 1828 49 jüdische Einwohner, 1837 16 jüdische Familien, 1861 83 jüdische Einwohner (9,6 % von insgesamt 865 Einwohnern), 1871 93, 1880 79 (9,2 % von 857), 1891 61, 1895 58, 1900 52 (7,0 % von 743), 1905 47, 1910 39 (4,9 % von 798). Während in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts noch jüdische Familien zuzogen oder zuziehen wollten (1843 beantragte Juda Schwarzschild, der bisher in der Ronneburg lebte, die Aufnahme in den Schutz von Neustadt, was jedoch abgelehnt wurde), erfolgte nach 1870 die schnelle Abwanderung vom Ort, nachdem 1874 Neustadt nach Auflösung des Kreises Neustadt seine Mittelpunktfunktion verloren hatte.   
   
An ehemaligen jüdischen Wohnhäusern in Neustadt sind aus der Zeit des 19./20. Jahrhunderts bekannt (mehrere davon wurden inzwischen abgebrochen und durch Neubauten ersetzt): die Gebäude Geisrain 2, 4, 20 und 24, Wertheimer Straße 3, 4, 5, 7, 14, 21, 26, 32, 34, Römerberg 3 und 6, Marktplatz 3, 7, 10 und 12, Erbacherstraße 4, 6, 20, 25, 26, 30, 33, Sackgasse 1 und Brückenstraße 5.   
  
An Einrichtungen bestanden im 19./20. Jahrhundert eine Synagoge (s.u.), eine Schule (Religionsschule) und ein rituelles Bad (1900 renoviert, siehe Bericht unten). Die Toten der Gemeinde wurden auf dem jüdischen Friedhof in Michelstadt. nach Anlegung des Friedhofes in Höchst auch dort beigesetzt. Zur Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war ein Lehrer angestellt, der zugleich als Vorbeter und Schochet tätig war (siehe unten Ausschreibung der Stelle). An Lehrern sind bekannt (mit Anstellungsjahr und Herkunftsort: Israel Oestreicher (1836, aus Schnaittach), Isaak Lehmann (1843, aus Gissigheim), Lehrer Rohrheimer (1859, aus Lorsch), Herz Herzfeld (aus König im Odenwald), Daniel Reinheimer (1864, aus Habitzheim), Carl Herzfeld (1867, aus Siegburg), Jacob Kleemann (1871-1892, aus Theilheim), Israel M. Wolpert (1895 bis nach 1932). 1875 waren 16 Kinder in der Religionsschule zu unterrichten, 1906 waren es noch 7. Die Gemeinde gehörte zum orthodoxen Bezirksrabbinat Darmstadt II.   
   
Um 1924, als zur Gemeinde noch 25 Personen gehörten (2,9 % von insgesamt 858 Einwohnern), waren die Vorsteher der Gemeinde Hugo Rosenthal, Friedel Marx und Isidor Haas. 1932 waren die Gemeindevorsteher Moses Kempe (1. Vors.), Siegfried Marx (2. Vors.) und Hugo Rosenthal (3. Vors.). Als Lehrer und Kantor wird weiterhin  J. M. Wolpert genannt. Die nur noch wenigen Schüler (1930 waren es noch sechs schulpflichtige Kinder) der jüdischen Gemeinde erhielten ihren Religionsunterricht durch Lehrer Hermann Kahn in Höchst.      
 
1928 gab es unter den jüdischen Gewerbetreibenden zwei Viehhändler, zwei Pferdehändler und zwei Kaufleute.   

1933 lebten noch 20 jüdische Personen am Ort (2,2 % von insgesamt 887 Einwohnern).
In den folgenden Jahren ist ein Teil der jüdischen Gemeindeglieder auf Grund der Folgen des wirtschaftlichen Boykotts, der zunehmenden Entrechtung und der Repressalien weggezogen beziehungsweise ausgewandert. 1936 wurden noch 19 jüdische Einwohner gezählt; außer den unten genannten - 1942 deportierten acht Personen - handelte es sich um den Chemiker Julius Frank, Hanna Frank geb. Rosenblum, Berta Haas, Helene Haas (1872), Helene Haas (1911), Franziska Marx, Hugo Rosenthal, Berta Rosenthal geb. Haas, Edith Rosenthal, Moritz Rotschild, Henriette Wolpert geb. Rotschild. Nach 1937 verzogen die genannten Personen in andere Orte (davon sieben nach Frankfurt). Unklar ist, was beim Novemberpogrom 1938 mit der Synagoge passiert ist, möglicherweise blieb sie unbeschädigt, sicher ist ein Überall auf das Geschäft der Familie Marx. Bis zum Beginn der Deportationen waren noch Angehörige der beiden Familien Marx und Kempe in Neustadt. Sie wurden am 18. März 1942 deportiert. Nach den Angaben des Gendarmerieposten vom 31. März 1942 handelte es sich um den Kaufmann Moses Kempe mit Frau Julie Kempe geb. Rösberg und Sohn Ernst Ludwig Kempe sowie um den Viehhändler (und letzten Gemeindevorsteher) Siegfried Marx mit Frau Rosa Marx geb. Traube, die Kinder Kurt Marx und Erich Josef Marx sowie die ledige Mathilde Marx.    
    
Von den in Neustadt geborenen und/oder längere Zeit am Ort wohnhaften jüdischen Personen sind in der NS-Zeit umgekommen (Angaben nach den Listen von Yad Vashem, Jerusalem und den Angaben des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945"): Hanna Frank geb. Rosenblum (1903), Julius Frank (1890), Helene Haas (1872), Ernst Ludwig Kempe (1926), Julie Kempe geb. Rösberg (1891), Moses Kempe (1891), Erich Josef Marx (1927), Franziska Marx (1896; 1939 Suizid in Frankfurt), Kurt Marx (1924), Mathilde Marx (1889), Rosa Marx geb. Traube (1889), Siegfried Marx (1876), Berta Rosenthal geb. Haas (1896), Edith Rosenthal (1923), Eduard Rothschild (1865).  
Neustadt OdW Dok 120.jpg (116470 Byte) Die Recherche in den genannten Verzeichnissen ist ohne bereits nach Namen zielgerichtete Suche nicht möglich, da zwischen den verschiedenen Orten "Neustadt" nicht klar differenziert wird. Das obige Ergebnis ergibt sich nach konkreter Überprüfung der Namen der 19 1936 in Neustadt lebenden jüdischen Personen. Die Liste würde wesentlich länger, wenn zusätzlich nach allen Personen recherchiert werden könnte, die in Neustadt geboren oder vor 1936 längere Zeit am Ort gelebt haben. 
Der Name von Eduard Rothschild (1865) konnte über die Zusendung der "Todesfallanzeige" des Ghettos Theresienstadt durch Angehörige / Nachkommen ergänzt werden. Er und seine Frau Clotilde geb. Geismar (geb. 1876 in Freiburg) sind in Theresienstadt umgekommen. Die Tochter Irma und ihr Ehemann Dr. med. Manfred Stern konnten in die USA emigrieren.                 
     
     
     
Berichte aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde 
 
Aus der Geschichte der jüdischen Lehrer  
Ausschreibungen der Stelle des Religionslehrers / Vorbeters / Schochet  1864 / 1870 / 1871 / 1892   

Neustadt iO Israelit 08061864.jpg (43517 Byte)Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 8ö. Juni 1864: "Die Stelle des israelitischen Lehrers und Vorsängers zu Neustadt im Odenwald, mit welcher folgender Gehalt verbunden ist: 
a. Fixum 200 fl. -  b) Akzidenzien circa 100 Fl. - c) Schächteramt  fl. 70.-  Im Ganzen 370 fl. -  
und freier Wohnung ist erledigt und mit dem 1. Juni zu besetzen. 
Bewerber wollen sich an den unterzeichneten Vorstand wenden.  
Neustadt im Odenwalde, 16. Mai 1864. Marx Rothschild."      
 
Neustadt iO Israelit 31081870.jpg (58973 Byte)Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 31. August 1870: "Annonce
Ein israelitischer Religionslehrer, dem gute Zeugnisse zur Seite stehen und der befähigt ist, gleichzeitig auch das Kantor- und Schächteramt zu bekleiden, wird seitens hiesiger Gemeinde vom 1. November dieses Jahres zu engagieren gesucht. 
Bei freier Wohnung und Heizung des Schullokals dotiert die hiesige Stelle einen fixen Gehalt von fl. 300 und außerdem bringen die Nebenverdienste durch Schlachten etc. noch ein Einkommen von mindestens fl. 150.  
Reflektanten wollen ihre Offerten alsbald franco an unterzeichneten Vorstand gelangen lassen.   
Neustadt (Odenwald), 21. August 1870. Der Vorstand."         
 
Neustadt iO Israelit 01021871.jpg (64135 Byte)Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 1. Februar 1871: "Annonce
Ein israelitischer Religionslehrer, dem gute Zeugnisse zur Zeit stehen und der befähigt ist, gleichzeitig auch das Kantor- und Schächteramt zu bekleiden, wird seitens hiesiger Gemeinde sofort zu engagieren gesucht.  
Bei freier Wohnung und Heizung des Schullokals dotiert die hiesige Stelle einen fixen Gehalt von fl. 300 und außerdem bringen die Nebenverdienste durch Schlachten etc. noch ein Einkommen von mindestens fl. 150.  
Reflektanten wollen ihre Offerten alsbald franco an unterzeichneten Vorstand gelangen lassen.   
Neustadt (Odenwald), Januar 1871.  Der Vorstand."         
Auf diese Ausschreibung bewarb sich erfolgreich Lehrer J. Kleemann, der 21 Jahre in der Gemeinde bleiben sollte.   
  
Neustadt iO Israelit 24111892.jpg (67731 Byte)Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 24. November 1892: "Vacanz
Durch eingetretene Familienverhältnisse unseres mehr als 21 Jahre hier fungierenden Lehrers, Herrn J. Kleemann, wird mit dem 1. Januar 1893 die hiesige israelitische Religionslehrer-, Vorsänger- und Schächterstelle vakant.      
Diensteinkommen ja nach Leistung 700 bis 900 Mark. Qualifizierte Bewerber, Russen und Polen ausgeschlossen, wollen ihre Gesuche mit Zeugnissen an den unterzeichneten Vorstand einsenden. Unverheiratete Bewerber erhalten den Vorzug.  
Neustadt im Odenwald, 19. November. Der Kultusvorstand. Marx Wertheimer

   
Ausschreibung der Stelle eines Vorbeters für die hohen Feiertage o.ä. (1901)    

Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 5. September 1901: "Die Gemeinde Neustadt im Odenwald sucht für die hohen Feiertage einen Vorbeter und Bal Tokeah, eventuell einen Lehrer, Chassen und Schochet per sofort. Derselbe darf auch Russe oder Pole sein, aber unverheiratet, am liebsten einen Anfänger. Sofortige Offerte mit Gehaltsansprüchen nimmt entgegen 
Der Vorstand: Feist Haas II
."    

    
      
Aus dem jüdischen Gemeindeleben   
Unklare Ursache für die Verletzung einer jüdischen Frau (1868)  

Neustadt iO Israelit 28101868.jpg (50422 Byte)Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 28. Oktober 1868: "Aus Neustadt im Odenwald wird dem 'Frankfurter Journal' berichtet, dass daselbst am Abend des Versöhnungstages auf vier aus der Synagoge kommende Frauen geschossen wurde. Eine der Frauen, die noch dazu guter Hoffnung (sc. schwanger) ist, wurde derartig am Kopfe verwundet, dass sie ohnmächtig nach Hause getragen werden musste. Wie der Korrespondent des Frankfurter Journals vermutet, ist lediglich Religionshass der Grund dieser fürchterlichen Ausschreibung. Verlässliches wird die eingeleitete Untersuchung ergeben."   
    
Neustadt iO Israelit 11111868.JPG (192238 Byte)Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 11. November 1868: "Neustadt im Odenwald. In Bezug auf den in Nr. 44 aus dem 'Frankfurter Journal' mitgeteilten Artikel über die Verletzung einer Judenfrau zu Stadt im Odenwalde wollen wir, damit ortsunkundige Leser nicht irre geführt werden, Nachstehendes entgegnen. Es ist wahr, dass am Abend des jüdischen Versöhnungstages eine auf der Straße (nicht in der Nähe der Synagoge) mit anderen gehende Judenfrau eine vier Linien lange oberflächliche Verletzung der Kopfschwarte erlitt, und dass sie guter Hoffnung ist. Unwahr ist, dass sie ohnmächtig wurde und nach Hause getragen werden musste. Unwahr ist, dass die Verletzung durch einen Schuss geschehen ist, wenigstens liegt keine Spur von Beweis dafür vor, und alle Urteilsführigen verneinen diese Annahme entschieden. Ob ein Zufall vorliegt, oder ob jemand die Verletzung absichtlich oder fahrlässig verschuldet hat, war bis jetzt nicht zu ergründen, und es ist also völlig unentschieden, ob der allenfallsige Täter ein Christ oder Jude, ein Erwachsener oder ein Knabe war, und ob ein rumänisches Gelüste (vermutlich Triebtäter gemeint) zu Grunde lag, oder nicht. Zur Unterstützung des Lokalarztes war kein Kreisarzt notwendig, denn die Wunde war so unbedeutend, dass ärztliche Kunst in tausend ähnlichen Fällen überhaupt nicht in Anspruch genommen wird. Amtliche Anzeige war nicht zu erstatten, da der Fall sich nach dem Strafgesetzbuche höchstens als eine geringste Körperverletzung ohne Arbeitsunfähigkeit betrachten lässt, welche nicht von Amts wegen, sondern nur auf Anklage des Verletzten bestraft wird. Die voraussichtliche ergebnislose Untersuchung wurde nur auf Anklage des Ehemannes der Beschädigten eingeleitet. Wer aus der Fassung des Artikels sich zu der Ansicht hinneigen sollte, dass die Behörden von diesem Vorfalle keine Notiz genommen haben, mag sich dagegen gesagt sein lassen, dass sowohl das Kreisamt, als die Bürgermeisterei und die Gendarmerie noch im Verlauf der nächsten Viertelstunde an Ort und Stelle waren und den Sachverhalt zu ermitteln suchten. Wenn wir noch anfügen, dass die hiesige christliche Bevölkerung im tiefsten Frieden mit ihren israelitischen Mitbürgern lebt, die von dem kleinen Unfalle betroffene Frau von Herzen bedauert und über den glücklichen Ausgang desselben beglückwünscht, so wird man unserer Versicherung glauben, dass die israelitische Bevölkerung sich nach wie vor in Neustadt ganz behaglich fühlt und in der Ausübung ihres Kultus in keiner Weise gehindert wird."         

 
Die Vorlese-Kenntnisse der Gemeindeglieder lassen zu wünschen übrig (1871)  

Tuechersfeld Judenhof 114.jpg (84750 Byte)Anmerkung zum nachfolgenden Artikel: Zu Purim wird (am Vorabend des 14. Adar) nach dem Abendgebet in der Synagoge die Purim-Geschichte in der hebräischen Urfassung mit einer besonderen Festmelodie vorgelesen. Dies geschieht aus einer auf Pergament handgeschriebenen Megila (siehe Foto links: Megila im Museum in Tüchersfeld). Offenbar war zu diesem Vorlesen beim Purimfest 1871 in Neustadt kein Gemeindeglied fähig. Ein Lehrer / Vorbeter war damals nicht vorhanden (vgl. die Vakatur, die auch aus den Ausschreibungen der Lehrerstelle 1870 und 1871 (siehe oben) deutlich wird. Dies erklärt die im Artikel vorgetragene Kritik.      
   
Neustadt iO Israelit 22031871.jpg (99985 Byte)Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 22. März 1871: "Aus dem hessischen Odenwalde. In der Gemeinde Neustadt im Odenwald hat man am Purim-Fest die Megilla (Buch Ester) aus einem Chumasch (hier wohl gemeint: aus einer gedruckten Bibelausgabe) vorgelesen.
Die Gemeinde Neustadt, in der an 15 jüdische Familien wohnen, hat nicht einen einzigen Privatmann aufzuweisen, der die Megilla in Ermangelung eines Chassan (Vorbeters) und Lehrers wie vorgeschrieben vorzulesen im Stande wäre! Wohin es doch in unserer Zeit gekommen ist! Die Gemeinde, oder vielmehr ein Gemeinderepräsentant, hat sich allerdings danach umgetan, einen Privatmann aus einer anderen, naheliegenden Gemeinde zu dem betreffenden Dienst zu engagieren, aber wie und wann hat man sich danach umgetan? Am Taanit Ester (sc. am Tag vor dem Purimfest) des Nachmittags erst war der Abgesandte in einem naheliegenden Orte; und wo hat man den Betreffenden angesprochen? auf der öffentlichen Straße, nicht aber ist man in ein Haus gegangen, und als die Sache nicht gleich angenommen werden konnte, da ja überhaupt die öffentliche Straße kein Platz zur Übertragung und zur Annahme eines solchen Dienstes ist, da hat man sich schon aller Verantwortlichkeit enthoben gefühlt und war schließlich froh, das Geld gespart zu haben. Ja, so weit ist es schon gekommen; wie weit wird es wohl noch kommen? Doch, - das Verborgene ist des Ewigen unseres Gottes (5. Mose 29,28), stellen wir die Zukunft Gott anheim, indem wir jederzeit das Beste hoffen."       

 
Die Mikwe (rituelles Bad) wird wieder hergestellt (1900) 

Neustadt iO Israelit 08111900.jpg (84062 Byte)Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 8. November 1900:  "Neustadt im Odenwald. Auch unsere kleine Gemeinde schloss sich zur Zeit der orthodoxen Richtung, respektive dem Großherzoglichen Landesrabbiner Herrn Dr. Marx - sein Licht leuchte - an, und könnten wir jetzt nach ca. fünf Jahren mit freudigem Herzen bekennen, dass unsere Wahl eine glückliche war. Vor ca. drei Jahren beglückte uns Seine Ehrwürden Herr Rabbiner Dr. Marx mit seinem Besuche, prüfte die Religionsschule, besichtigte unsere religiösen Institutionen, fand leider unsere Mikwoh in sehr vernachlässigtem Zustande, ermunterte den Vorstand und stellte die nötigen Mittel in Aussicht. Unsere Mikwoh ist zur Zeit wieder hergestellt, und erhielten wir vor einigen Tagen vom Herrn Rabbiner Dr. Marx einen Beitrag von 70 Mark. Wir sprechen hiermit unserm Herrn Rabbiner unseren wärmsten Dank aus, und wünschen, dass unsere Institutionen sich fernerhin einen regeren Besuch erfreuen mögen, als bisher der Fall war."          

     
     
     
Zur Geschichte der Synagoge              
      
Nach der Darstellung von Arnsberg soll es in Neustadt seit etwa 1760 eine Synagoge gegeben haben, wobei es sich vermutlich um einen einfachen Betraum in einem der jüdischen Wohnhäuser gehandelt hat. 
   
Zwischen 1830 und 1844
wurde eine (neue) Synagoge eingerichtet. 1830 hatte die jüdische Gemeinde ein Haus gekauft, das als Lehrerwohnung dienen und hinter dem eine Synagoge errichtet werden sollte. Die Gemeinde erhielt am 3. November 1830 von der Großherzoglich-Hessischen Regierung für die Provinz Starkenburg die Erlaubnis zur Durchführung einer Kollekte für den Synagogenbau in den umliegenden Gemeinden: "Nachdem der israelitischen Gemeinde zu Neustadt die Erlaubnis erteilt worden ist, bei ihren Glaubensgenossen in Hetschbach, Höchst, Kirchbrombach, Michelstadt, Beerfelden und Reichelsheim milde Beiträge zur Errichtung einer Synagoge acht Tage lang einzusammeln, so wird derselben gegenwärtiges Patent hierüber erteilt". Wann die Synagoge genau erstellt und eingeweiht werden konnte, ist nicht bekannt. Aus dem Jahr 1844 und 1859 liegen Synagogenordnung vor. 
 
Aus der Synagogengeschichte ist nur wenig bekannt. 1911 erfährt man einmal von der Störung der Synagogenordnung, über die der Vorstand der jüdischen Gemeinde Neustadt dem Großherzoglichen Kreisamt Erbach berichtete: "Am Samstag, den 17. Juni 1911 haben sich Emanuel Wertheimer und Leopold Haas beide von hier während des Gottesdienstes unterhalten. Auf Warnung haben sich beide nichts gestört. Wir bitten Großherzogliches Kreisamt wollte beide Herrn darüber zurechtweisen, wie sie sich in der Synagoge während des Gottesdienstes zu benehmen haben. Ferner geht der Leopold Haas wie es ihm gefällt vor Beendigung des Gottesdienstes aus der Synagoge, das auch untersagt ist. Wir bitten ebenfalls darüber zurecht zu weisen."    
 
Ansonsten war die Synagoge - wie in den meisten anderen jüdischen Gemeinden auch - bis nach 1933 Mittelpunkt des religiösen Lebens am Ort. 
       
Beim Novemberpogrom 1938 soll die Synagoge unbeschädigt geblieben sein, möglicherweise war sie bereits vor dem Novemberpogrom verkauft. Im Buch "Stadt Breuberg - 600 Jahre Neustadt" (1978) liegt zum Grundstück Wertheimerstraße 26 folgende Angabe zur Geschichte vor: "An der Stelle der linken Seite des heutigen Friseurgeschäftes Fischer stand um 1800 ein zweistöckiges Haus längs der Straße das dem Wagnermeister Georg Wilhelm Bausch gehörte. Bereits 1808 dürfte es Friedrich Hämel besessen haben, der es 1830 an die Neustädter Judenschaft verkaufte. Von diesem Zeitpunkt an ist auch eine Synagoge nachgewiesen. Ab 1938 zeichnet die Gemeinde Neustadt als Besitzer des Anwesens, das 1939 durch Abbruch des Wohnhauses und der Südwand der Synagoge in eine Ruine verwandt wurde. 1954 erwarb der Friseur Georg Fischer jun. die Ruine und errichtete hier einen Neubau mit Friseurgeschäft". Nicht erwähnt ist in dieser Darstellung der dazwischen - 1952 - erfolgte Abbruch des Synagogengebäudes
.      
    
    
Adresse/Standort der Synagoge   auf dem Grundstück Wertheimerstraße 26 
    
    
Fotos   

Gedenken an die jüdische Geschichte
 (Quelle der Fotos: 
Website der Stadt Breuberg
 Neustadt iO Gedenken 110.jpg (58680 Byte) Neustadt iO Gedenken 111.jpg (106155 Byte) 
  Enthüllung der Gedenktafel durch
 Stadtverordnetenvorsteherin 
Cornelia Fürpahs-Zipp und 
Bürgermeister Frank Matiaske
Gunter Demnig verlegt die Stolpersteine 
für acht ermordete jüdische Neustädter
 
       
     

      
      
Erinnerungsarbeit vor Ort - einzelne Berichte  

März 2009: "Stolpersteine"-Verlegung in Neustadt 
Dazu der Bericht von Gabriele Lermann in der Website der Stadt Breuberg (Artikel im Echo-Onlne.de; vgl. Artikel im "main-netz.de"):  Zum Jahrestag Gedenktafel und Stolperstein. Die Stadt und die Bürgerstiftung Breuberg erinnern an die beiden jüdischen Familien Marx und Kempe, die am 18. März 1942 deportiert und später ermordet wurden.  
Breuberg-Neustadt.
Es ist neun Uhr am Mittwochmorgen 18. März. Eine Gruppe von Menschen versammelt sich am alten Markt. Dazwischen kniet ein Mann auf dem Boden, den Hut tief in das Gesicht, verrichtet er ungeachtet der vielen Menschen, die sich um ihn versammeln, seine Arbeit. Er hämmert, bürstet, passt an. Dort, wo er einige der Kopfsteinplastersteine herausgelöst hat setzt er fünf Steine, versehen mit Messingplatten und Namen: Mathilde, Siegfried, Rosa, Kurt und Erich Josef Marx. Genau an diesem Tag vor 67 Jahren, am 18. März 1942, wurde die jüdische Familie Marx deportiert und in einem Lager im Osten ermordet. Die jüngsten Familienmitglieder, Kurt und Erich Josef, 18 und 15 Jahre alt..."   
    
Presseartikel von "Echo-online" vom 7. August 2009 (zitiert aus der Website der SPD Breuberg): 
Das Beispiel in der Nachbarschaft gibt Neustadt Presse. 
Gedenken: Im Odenwaldkreis weist Breuberg bereits acht jener Stolpersteine auf, die Michelstadt in sein Straßenbild einbringen will. 
NEUSTADT.
Mit rund 60 Stolpersteinen wird Michelstadt einen Schwerpunkt des Gedenkens an die Opfer nationalsozialistischer Gewalt bilden – entsprechend der Größe, die seine jüdische Gemeinde bis weit ins Dritte Reich hinein aufwies. Die Vorreiter-Stellung bei dieser Form der Aufarbeitung auch lokal verübter, geförderter oder geduldeter historischer Verbrechen hat für den Südosten Hessens die Stadt Breuberg inne. Das Straßenbild ihres Stadtteils Neustadt nämlich weist seit einigen Monaten Stolpersteine auf..."    
    
März 2011: Gedenken an die Deportation der Neustadter Juden    
Artikel in "echo-online.de" vom 27. März 2011 (Artikel): "Auf Lastwagen in den Tod
Gedenkstunde: Stadt Breuberg erinnert an Neustädter Juden-Familien Marx und Kempe- 
NEUSTADT.
'Damals war ich als achtjähriger Junge von unserem Haus in der Nähe der Kirche auf dem Weg zu unserer Schule, dort das Sandsteingebäude, das ehemalige Rentamt. Es muss acht Uhr früh gewesen sein, ich besuchte dort die zweite Volksschulklasse. Am Konsum – der Standort prägte sich ein – stand ein Lastwagen mit offener Pritsche und großen Vollgummirädern, auf dem Leute saßen und einige dazu stiegen. Das blieb in Erinnerung, da man sonst nur mit dem Postauto verreisen konnte.'..."     Stolpersteine übernommen. Dies auch, weil die Söhne der beiden Familien damals im gleichen Alter waren wie die Jugendlichen heute."   
 

     

  
Links und Literatur

Links:   

Website der Stadt Breuberg 
Webportal HS 010.jpg (66495 Byte)Webportal "Vor dem Holocaust" - Fotos zum jüdischen Alltagsleben in Hessen mit Fotos zur jüdischen Geschichte in Neustadt im Odenwald 

Literatur:  

Germania Judaica III,2 S. 966.  
Paul Arnsberg: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn. 1971. Bd. II S. 128-129.  
Keine Abschnitt zu Neustadt im Odenwald - da die Synagoge 1938 zerstört wurde - in den Büchern von Thea Altaras: Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945? 1988 und dies.: Das jüdische Rituelle Tauchbad und: Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945 Teil II. 1994. 
"600 Jahre Stadt am Breuberg - Neustadt". Breuberg 1978. 1. Aufl. Bausteine zu einer Geschichte der Stadt Breuberg. Hierin: Abschnitt zur jüdischen Geschichte von Thomas Geibel.   
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hg.): Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933-1945. Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt. 1995 S. 244-245 (mit weiteren Literaturangaben S. 256).    
Pinkas Hakehillot: Encyclopedia of Jewish Communities from their foundation till after the Holocaust. Germany Volume III: Hesse -  Hesse-Nassau - Frankfurt. Hg. von Yad Vashem 1992 (hebräisch) S. 263-264. 

    
     


 

Article from "The Encyclopedia of Jewish life Before and During the Holocaust". 
First published in 2001 by NEW YORK UNIVERSITY PRESS; Copyright © 2001 by Yad Vashem Jerusalem, Israel.

Neustadt im Odenwald  Hesse. The community, numbering 93 (about 11 % of the total) in 1871, dwindled to 20 in 1933. On Kristallnacht (9-10 November 1938), the synagogue's interior war destroyed and by 1939 the Jews had mostly emigrated.  
   
     

                   
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Copyright © 2003 Alemannia Judaica - Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Geschichte der Juden im süddeutschen und angrenzenden Raum
Stand: 05. Juni 2014