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Wetteraukreis"
Ober-Seemen (Stadt
Gedern, Wetteraukreis)
Jüdische Geschichte / Synagoge
("bis jetzt eine der frömmsten Gemeinden
Deutschlands" - aus einem Bericht von 1879 s.u.)
Übersicht:
Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde (english
version)
In Ober-Seemen bestand eine jüdische
Gemeinde bis 1938/42. Ihre Entstehung geht in die Zeit des 17. Jahrhunderts
zurück.
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Zahl der jüdischen Einwohner wie
folgt: 1828 141 jüdische Einwohner, 1861 151 (17,1 % von insgesamt 882),
1880 115 (13,7 % von 839), 1895 93 (10,6 % von 879), 1910 94 (9,8 % von 962).
Mitte des 19. Jahrhunderts waren zwei Drittel der jüdischen Gewerbetreibenden
Kaufleute, die übrigen Viehhändler und Handwerker.
An Einrichtungen bestanden eine Synagoge (s.u.), eine
Religionsschule (bis 1923 Israelitische Elementarschule), ein rituelles Bad und ein
Friedhof.
Zur Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war ein Lehrer angestellt
der zugleich als Vorbeter und Schochet tätig war (siehe Ausschreibungen der
Stelle unten). 1861 bis 1874 war als Lehrer Nathan Sichel an der
Israelitischen Elementarschule der Gemeinde tätig. 1875 unterrichtete der Lehrer J. Rothschild
21 jüdische Kinder; er war allerdings nur kurze Zeit in Ober-Seemen.
1910 gab es 16, 1920 wieder 20 schulpflichtige jüdische Kinder. Von 1915 bis
1923 war Lehrer der Gemeinde Samuel Welsch. Als er die Gemeinde verließ, wurde
die Konfessionsschule aufgehoben. Danach wurde der Unterricht durch auswärtige
Lehrer erteilt (Lehrer Adolf Bauer aus Gedern;
bereits 1904 war ein Schulverband der jüdischen Gemeinden Gedern,
Ober-Seemen und Wenings vorgeschlagen worden). Die Gemeinde
gehörte zum orthodoxen Provinzialrabbinat Oberhessen mit Sitz in Gießen.
Im Ersten Weltkrieg fielen aus der jüdischen Gemeinde Berthold Bing
(geb. 12.5.1896 in Oberseemen, vor 1914 in Leipzig wohnhaft, gef.
7.11.1918) und
Lion Levy (geb. 15.6.1886 in Ober-Seemen, vor 1914 in Mannheim wohnhaft, gef.
12.3.1916).
Um 1924, als noch 87 jüdische Einwohner gezählt wurden (8,6 % von
1.008), waren die Vorsteher der Gemeinde Hermann Sichel, Nathan Zimmermann
und Julius Adler. Den Religionsunterricht der damals noch 10 schulpflichtigen
jüdischen Kinder erteilte Lehrer Adolf Bauer aus Gedern. An jüdischen Vereinen
bestanden eine Männer-Chewra (Israelitischer Männerverein,
Arbeitsgebiet und Ziel: Wohltätigkeit und Bestattungswesen, 1932 Vorsitzender
Nathan Zimmermann) und eine Frauen-Chewra (Israelitischer Frauenverein,
Arbeitsgebiet und Ziel: Wohltätigkeit und Bestattungswesen) sowie eine Ortsgruppe des Agudas
Jisroel. 1932 waren die Gemeindevorsteher Benno Bing (1. Vors.),
Nathan Zimmermann (2. Vors.) und Simon Frank (3. Vors.). Im Schuljahr 1931/32
erhielten 8 jüdische Schulkindern Religionsunterricht, der weiterhin
durch den jüdischen Lehrer Bauer aus Gedern erteilt wurde. Dieser hielt in
Ober-Seemen u.a. auch die Beerdigungen verstorbener Gemeindeglieder ab (s.u. bei
den Berichten zu den Beisetzungen von Samson Sichel und Benno Bing (1932/35).
1933 lebten noch 73 jüdische Personen am Ort (6,8 % von 1.071
Einwohnern; in 20 Familien). In
den folgenden Jahren ist ein Teil der
jüdischen Gemeindeglieder auf Grund der zunehmenden Entrechtung und der
Repressalien weggezogen beziehungsweise ausgewandert. Hauptauswanderungsziele
waren die USA, Südafrika und Palästina. Im Oktober 1937 beschloss die noch aus
15 Mitgliedern bestehende Gemeinde, dass die Auflösung der Gemeinde beantragt werden sollte.
Anfang 1938 wurde durch den letzten Gemeindevorsteher Simon Frank die Auflösung
vollzogen, die Synagoge geschlossen und verkauft (s.u.). Beim Novemberpogrom
1938 kam es dennoch auch in Ober-Seemen zu Ausschreitungen gegen die
ehemalige Synagoge und
die noch am Ort lebenden jüdischen Einwohner. 1939 waren nur noch zwei
jüdische Personen am Ort, Anfang Dezember 1940 fünf (Familie Schuster).
Von den in Ober-Seemen geborenen und/oder
längere Zeit am Ort wohnhaften jüdischen Personen sind in der NS-Zeit
umgekommen (Angaben nach den
Listen von Yad
Vashem, Jerusalem und den Angaben des "Gedenkbuches
- Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945"): Gustav Anger (1896),
Thekla Bickhardt geb. Kaufmann (1892), Lina Bing geb. Stiefel (1892), Jettchen
Bornheim geb. Strauss (1870), Berta Braun geb. Strauß (1871), Emil Frank
(1911), Maurice Frank (1896), Rosa Frank geb. Frank (1878), Simon Frank (1872),
Flora Fransmann geb. Goldschmidt (1895), Frieda Goldschmidt geb. Strauss (1902),
Gottfried Goldschmidt (1902), Leopold Goldschmidt (1881), Bella Grünebaum geb.
Strauss (1903), Rebekka Gutmann geb. Sichel (1873), Berta Jonassohn geb.
Goldschmidt (1901), Irene Jonassohn (1934), Isack Kurt Jonassohn (1931), Ruth
Jonassohn (1927), Albert Kahnlein (1908), Marianne Kahnlein geb. Wildberg
(1877), Moritz Kahnlein (1877), Salli (Sally) Kaufmann (1881), Lina Lichtenstein
geb. Zimmermann (1869), Recha Maier geb. Strauss (1901), Lazarus Ottensoser
(1855), Elli Rosenthal geb. Oppenheimer (1904), Fanny Rosenthal geb. Zimmermann
(1858), Recha (Rachel) Rosenthal geb. Rosenthal (1898), Betty Schuster (1924),
Friedel Schuster (1931), Joseph Schuster (1893), Margot Schuster (1926), Sara
Schuster geb. Wallach (1875), Sidonie Schuster (1924), Werner Schuster (1930),
Emilie Stern (1867), Ida Strauss (1925), Isaak Strauss (1876), Siegfried
Strauss (1905), Zadock Strauß (1873), Flora Zimmermann (1940), Sara Flora
Zimmermann (1860).
Berichte aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde
Aus der Geschichte der jüdischen Lehrer
Ausschreibungen der Stelle des Elementar-/Religionslehrers / Vorbeters / Schochet 1876
/ 1877 / 1885 / 1887 / 1890 / 1891 / 1900 / 1915
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 7. Juni 1876:
"Die Stelle eines Elementarlehrers, Chasan (Vorbeter) und Schochet in
der Gemeinde Ober-Seemen in Oberhessen ist zum 1. September zu besetzen.
Der Gehalt beträgt 700 Mark nebst freier Wohnung, Nebenakzidenzien ca.
3-400 Mark.
Bewerber wollen sich gefälligst unter Anschluss Ihrer
Zeugnisse melden bei dem israelitischen Vorstand. J.B. Bing." |
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Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 3. Oktober 1877:
"Lehrer-Gesuch. Die israelitische Gemeinde zu Ober-Seemen
(Oberhessen) sucht bis den 1. Dezember dieses Jahres einen Religionslehrer
und Vorbeter mit einem Gehalt von 700 Mark, freier Wohnung und
entsprechenden Nebenverdiensten. Bewerber wollen sich unter Beifügung
ihrer Zeugnisse an den israelitischen Vorstand zu Ober-Seemen
wenden. J.B. Bing." |
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Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 21. Dezember 1885:
"Die Stelle eines Religionslehrers, Schochet und Chasan in der
israelitischen Gemeinde Ober-Seemen ist alsbald zu besetzen. Der Gehalt
beträgt 600 Mark nebst üblichen Nebenakzidenzien. Bewerber wollen sich
unter Anschluss ihrer Zeugnisse melden bei dem israelitischen Vorstand in
Ober-Seemen (Oberhessen)." |
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Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 7. Juli 1887:
"Die Stelle eines Religionslehrers, Chasan und Schochet in der
Gemeinde Ober-Seemen (Oberhessen) soll alsbald besetzt werden mit einem
jährlichen Gehalt von 600 Mark nebst üblichen Nebenverdiensten.
Bewerber, im Besitz einer guten Stimme, wollen sich unter Anschluss ihrer
Zeugnisse melden bei dem Vorstand J.B. Bing.
Reisekosten werden nur
demjenigen vergütet, der die Stelle erhält." |
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Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 19. Dezember 1887:
"Die israelitische Gemeinde Ober-Seemen in Oberhessen sucht bis zum
1. Januar 1888 einen seminaristisch gebildeten Religionslehrer, Schochet,
Chasan. Gehalt 700 Mark nebst üblichem Nebenverdienst.
Bewerber belieben
sich unter Anschluss ihrer Zeugnisse zu melden bei dem israelitischen
Vorstand. J. B. Bing. Reisekosten werden demjenigen vergütet, welcher die
Stelle erhält." |
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Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 8. Mai 1890:
"Wir suchen bis zum 1. Juni einen seminaristisch gebildeten
Religionslehrer, Chasan (Vorbeter) und Schochet. Der Gehalt
beträgt 650 Mark nebst den üblichen Nebeneinkünften ca. 200 Mark.
Bewerber wollen sich unter Anschluss ihrer Zeugnisse melden.
Ober-Seemen (Oberhessen). Der Vorstand: J. B. Bing." |
|
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 13. April 1891:
"Wir suchen per 1. Mai dieses Jahres einen staatlich geprüften
Religionslehrer, Chasan und Schochet. Gehalt beträgt 700 Mark nebst
üblichem Nebenverdienste. Bewerber wollen sich mit Anschluss ihrer
Zeugnisse melden bei dem israelitischen Vorstand
J.B. Bing, Ober-Seemen,
Oberhessen." |
|
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 22. Oktober 1900:
"Religionsschulstelle zu besetzen. Die mit einem festen Gehalt von Mark
800, freier Wohnung und Nebengefällen von 3-400 Mark verbundene Stelle
eines Religionslehrers, Kantors und Schächters dahier soll bis zum 1.
Dezember dieses Jahres neu besetzt werden. Meldungen mit beglaubigten
Zeugnisabschriften wollen bald an den Unterzeichneten gerichtet werden.
Ober-Seemen, Oberhessen, 17. Oktober.
Der Vorsitzende der Vorstandes: A. Kaufmann." |
|
Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 29. März 1915:
"Zum 15. April dieses Jahres wird in der Gemeinde Ober-Seemen (Oberhessen)
die Stelle eines Kantors, Schächters und Religionslehrers frei.
Bewerber mit guten Zeugnissen, am liebsten unverheiratet, wollen sich
melden. Gehalb 1.050 Mark Fixum, ca. 350 Mark Nebeneinkommen, sowie freie
Wohnung und Gelegenheit in einer Nebengemeinde die Unterrichte gegen
Vergütung mit zu übernehmen.
Der Vorstand: Schuster." |
Zum Tod von Nathan Niedermann (Lehrer in Oberseemen bis 1885, danach bis zu
seinem Tod 1910 in Neckarbischofsheim)
Artikel
im "Frankfurter Israelitischen Familienblatt" vom 20. Mai 1910:
"Neckarbischofsheim.
Unser langjähriger Lehrer und Kantor Nathan Niedermann wurde zum großen
Leide der ganzen Gemeinde aus dieser Welt abberufen. Ein schweres Leiden
hatte ihn vor einem halben Jahre mitten aus seiner Tätigkeit heraus aufs
Krankenlager geworfen, und wenn es manchmal ihm auch wieder zu gelingen
schien, seine Tätigkeit wieder aufzunehmen, so war die Besserung nur eine
scheinbare.
Mit ihm ist ein bescheidener, friedliebender Mann, der über 24 Jahre treu
und gewissenhaft seines Amtes in unserer Gemeinde gewaltet hat, ins Grab
gesunken. Erst 48 Jahre alt, ist es heimgegangen, fast seine ganze
Lebensarbeit gehörte der hiesigen Gemeinde, er war nur kurze Zeit vor
seinem Hierherkommen Lehrer in Oberseemen. Ein Schüler des
Würzburger Seminars, hatte er dessen Traditionen nicht vergessen, in
Lehre und Leben war er, das muss heutzutage besonders betont werden, ein Bekenner
des traditionellen Judentums. Nie wird sein Gedächtnis erlöschen bei
allen denen, die ihn gekannt haben." |
Dienstjubiläum des Lehrers Nathan Sichel 1911 (1861 bis 1874 Lehrer in
Ober-Seemen)
Bericht
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 11. Mai 1911:
"Kleinsteinach (Unterfranken), 30. April. Am 1. Mai konnte Herr
Lehrer Sichel hier auf eine 50jährige Amtstätigkeit zurückblicken.
Zuerst wirkte derselbe 13 Jahre in Ober-Seemen (Oberhessen), sodann 6
Jahre in Dornheim (Mittelfranken). Seit 31 Jahren waltet Herr Sichel in
der hiesigen Gemeinde mit großer Pflichttreue seines Amtes und hat
während dieser langen Zeit eine segensreiche Tätigkeit entfaltet. Dessen
Verdienste um die hiesige Gemeinde und Schule wurden hier durch
Veranstaltung einer größeren Feier anlässlich seines 25jährigen Dienstjubiläums
geziemend gewürdigt. Um seinem Wirkungskreise keine Gelegenheit zu einer
zweiten Jubiläumsfeier zu geben, beging Herr Sichel in aller Stelle den
wichtigen Tag seines Lebens. Möge dem allseits beliebten Lehrer ein recht
hohes, gesegnetes Alter beschieden sein!" |
Aus dem
jüdischen Gemeinde- und Vereinsleben
Spendenaufruf für den in Not geratenen langjährigen
Gemeindeleiter (1879)
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 5. November 1879:
"Ein in vielen Kreisen durch seine besondere Frömmigkeit und
Rechtschaffenheit bekannter Mann aus Ober-Seemen ist vor einem halben
Jahre erkrankt und hat durch die Dauer seines Leides sein kleines, schwer
erworbenes Vermögen verbracht.
Derselbe ist Familienvater, hat eine Frau und 2 unmündige Kinder. Leider
ist vor 6 Wochen auch die Frau erkrankt, und nach ärztlichem Gutachten
nur wenig Hoffnung für eine Genesung. Die hiesige Gemeinde hat bis jetzt
mit großer Aufopferung der Familie hilfreich beigestanden. Allein die
Gemeinde hier ist klein und das Elend ist so groß, dass auswärtige Hilfe
nötig ist.
Den Charakter dieses Mannes in seiner wirklichen Größe zu schildern,
vermag man nicht. Derselbe ist ein Sohn der Tora, ein Mann der
Wohltätigkeit und ein Frommer im wahren Sinne des Wortes.
Durch volle 42 Jahre, während welcher Zeit derselbe Handelsmann war (sein
Geschäft ist auf einem Platze, wo keine Juden wohnen), ernährte er sich
in den Wochentagen von kalten Speisen.
Seit 30 Jahren ist er der Leiter der Gemeinde. Durch seinen Eifer, durch
seine besondere Frömmigkeit und wahrhafte Religiosität bewirkte er, dass
Ober-Seemen bis jetzt eine der frömmsten Gemeinden Deutschlands
ist und so Gott will bleiben wird.
Der Aufenthalt des Mannes an den Wochentagen ist 3 1/2 Stunden von seinem
Wohnorte entfernt und dennoch kam er jeden ... nach Hause. Im Sommer wie
im Winter eilte er zur Erfüllung des Minjan in unserer Synagoge.
Das Schicksal hat ihn leider hart verfolgt. Erst vor einem Jahre ist
ihm sein hoffnungsvoller Sohn (Lehrer zu Aschaffenburg) durch den Tod
entrissen und mit ihm seine Hauptstütze ins Grab gesenkt worden. Nun
liegt er selbst hilflos und krank danieder. Erbarmen wir uns seiner und Gott
wird sich über uns erbarmen. Adolph Austerlitz.
Die Wahrheit des Vorstehenden wurde uns von dem Vorstande, den Herren J.B.
Bing und Em. Frank in Ober-Seemen, bestätigt und werden alle edle und
wohltätige Glaubensgenossen um milde Gaben gebeten. Wir sind zur Annahme
von Spenden gern bereit, die in diesen Blättern veröffentlicht werden.
Die Expedition des 'Israelit'." |
Spendenaufruf für eine in Not geratene Familie (1885)
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 18. Juni 1885:
"Teuere Glaubensgenossen!
In einer Zeit, in welcher so häufig an
Eure Wohltätigkeit appelliert wird, entschließen wir uns schwer, und nur
von der dringendsten Notwendigkeit gezwungen, mit einer Bitte an Euch
heranzutreten:
Eine hiesige Familie ist plötzlich ohne ihr Verschulden in die tiefste
Armut geraten. - Der Vater, der stets bestrebt war, sich und die Seinigen
auf die redlichste Weise zu ernähren, ist vorige Woche, nur, wie man
sicher annimmt, aus größter Verzweiflung, - die Gläubiger drängten, -
heimlich nach Amerika, seine Frau nebst 7 unmündigen Kindern in größtem
Elend zurücklassend.
Unsere Unterstützungen allein reichen nicht aus, den Verlassenen
wenigstens ihre Wohnstätte zu erhalten und so bitten wir denn hiermit
dringend um Hilfe.
Noch niemals wurde ja die Bitte: Gedenket der Unglücklichen und helfet
ihnen ein Jeder nach seinen Kräften! vergeblich an unsere
Glaubensgenossen gerichtet, und so möge auch diese einen segensreichen
Erfolg haben!
Gaben wolle man gütigst richten an die Expedition dieses Blattes, sowie
an den israelitischen Vorstand dahier.
J.B. Bing. Nathan Niedermann, Lehrer. Em. Frank. Oberseemen." |
Generalversammlung der Agudas Jisroel-Jugendgruppe
(1924)
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 17. Januar 1924: "Oberseemen.
Am 25. Dezember hielt unsere Agudas Jisroel-Jugendgruppe ihre
Generalversammlung ab. Als 1. Vorsitzender der Gruppe wurde Herr Willi
Goldschmidt gewählt. Unser seitheriger stellvertretender Vorsitzender
Herr Moritz Oppenheimer, eröffnete die Versammlung mit einer
Begrüßungsansprache. Tätigkeitsbericht über das verflossene Jahr wurde
durch Frl. Bella Strauß, Finanzbericht durch Herrn Willi Goldschmidt
erstattet; letzterer erfreute uns durch seinen lehrreichen Vortrag: 'Was
ist die Agudoh und was will sie?' Die hiesige Jugendgruppe
veranstaltet regelmäßige Zusammenkünfte am Schabbosmittag. Hieran
beteiligen sich ca. 10 Damen und 8 Herren. Die Versammlung brachte uns
einige neue Mitglieder." |
Berichte zu einzelnen Personen der Gemeinde
Bericht
von Lehrer Ottensoser in Büdingen über die Hilfe für eine jüdische Familie
aus Ober-Seemen (1860)
Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 13. März 1860 - es handelt sich um einen längeren Bericht von
Lehrer Ottensoser: "(Büdingen).
Der Sohn eines kranken, jetzt verstorbenen Mannes zu Ober-Seemen
begab sich zur Frau Gräfin von Stolberg-Wernigerode und Gedern ins Schloss
zu Gedern, um sie zu bitten, für seinen kranken Vater etwas sog.
Eingemachtes zu geben. Sie sah den Jungen an und erklärte: 'Der Vater ist
ein Jude, und für Juden habe ich solches nicht.'
Darauf kam dieser junge Mann hierher (sc. nach Büdingen), erzählte mir
das Vorbemerkt. Augenblicklich begab ich mich ins hiesige fürstliche Schloss
des Herrn Fürsten zu Isenburg-Büdingen, um Ähnliches für den besagten
Kranken bittend, dabei erklärend, es sei für einen Juden aus Ober-Seemen,
4 Stunden von hier, bestimmt. Welcher Kontrast! Mit der größten
Bereitwilligkeit und Zuvorkommenheit gab man mir das Gewünschte, mit dem
Wunsche, es möchte dem Kranken wohl bekommen, und wenn es ihm zusagte,
sollte ich nur wiederkommen und für denselben noch mehr derart in Empfang
nehmen." |
Julius Sichel wird mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet (1916)
Mitteilung
im "Frankfurter Israelitischen Familienblatt" vom 23. Juni 1916:
"Frankfurt am Main. Julius Sichel, Zeil 13, Sohn von Samson Sichel in
Oberseemen, erhielt das Eiserne Kreuz." |
Zum Tod des langjährigen Beschneiders J. B. Bing (1922)
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 4. Mai 1922. "Oberseemen
(Oberhessen), 1. Mai (1922). Zu einer gewaltigen Trauerkundgebung gestaltete
sich der letzte Gang des J.B. Bing, welcher im 93. Lebensjahre das
Zeitliche gesegnet hat. Aus Nah und Fern war man herbeigeeilt, um dem
teuren Verklärten den Tribut der Verehrung zu zollen. Einer vom Geiste
unserer Heiligen Tora durchdrungenen Familie entstammend, hatte er
sich schon frühzeitig einer Schar Lernbegieriger angeschlossen und durch
seinen beispielgebenden Eifer ein umfangreiches jüdisches Wissen
angeeignet. Mehrere Jahrzehnte hindurch bekleidete er in uneigennütziger,
selbstloser Weise das Amt eines Mohel (Beschneiders). Mehrere
hundert jüdische Knäblein wurden durch ihn in den Bund Abrahams
eingeführt. In seiner Begeisterung für die heilige Sache scheute er
keine Mühe. Als Hilfsvorbeter verstand er es, an den hohen Feiertagen
seine Zuhörer durch seine innige Vortragsweise zu fesseln. Mit seltener
Herzenswärme tat er jedem entgegen. Weit über den Kreis unserer Gemeinde
hinaus hat er sich durch seine reelle Geschäftsführung, ob seines
lauteren Charakters und seines vorbildlichen Wohltätigkeitssinns die
größte Hochachtung auch bei Andersgläubigen erworben. Am Grabe entwarf
Herr Lehrer Welsch ein getreues Lebensbild des Entschlummerten. Seine
Seele sei eingebunden in den Bund des Lebens." |
Zum Tod des Mohel (Beschneiders) und langjährigen Vorstehers der Gemeinde
Eisemann Bing (1928)
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 3. Januar 1929:
"Ober-Seemen, 20. Dezember (1928). Am letzten Sabbat, kurz nach dem
Minchagebet durcheilte die Trauerkunde unseren Ort, dass Eisemann Bing
nicht mehr unter den Lebenden weilte. In voller Rüstigkeit verließ er
seine Lieben, um am Minchagottesdienst teilzunehmen; und auf dem Rückwege
hat es Gott gefallen, ihn im Alter von 69 Jahren in ein besseres Leben
abzurufen. Mit ihm ist ein echter Jehudi von uns gegangen, ein Vorbild der
Gemeinde. Sein Leben war ausgefüllt mit Thauro (Tora), Awaudo
(Gottesdienst) und Gemilus Chassodim (Wohltätigkeit). Von
früherer Jugend bis zu seinem Lebensende führte er das heilige Amt eines
Mophels aus. Lange Jahre war er Führer der Israelitischen Kultusgemeinde
und auch im Vorstand der politischen Gemeinde. Er war ein Mann von
seltener Herzensgüte und jeder, der ihn kannte, musste sich hingezogen zu
ihm fühlen. Er stellte an das Leben geringe Anforderungen, umso höher
aber an sich um seine bis zum letzten verbrauchte Arbeitskraft für die
anderen. Er führte eine harmonische Ehe mit seiner gleichgesinnten
frommen Gattin, und erlebte sein höchstes Glück im Gedeihen seiner
Familie. Hunderte erwiesen ihm die letzte Ehre. Die ganze Gegend, Juden
und Nichtjuden, gaben ihm das letzte Geleit. Am Grabe entwarf Herr Lehrer
Bauer in ergreifenden Worten ein Lebensbild des Verstorbenen, der aus
einem Leben der Arbeit, Frömmigkeit und Güte herausgerissen wurde. Möge
Gott der schwer geprüften Gattin, seinem Sohn wie dem kreise seiner
Angehörigen Kraft verleihen, diesen schweren Verlust in Liebe zu
tragen." |
Zum Tod der aus Ober-Seemen stammenden Emilie Rothschild geb. Bing (1929)
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 19. Dezember 1929: "Alsfeld
(Hessen), 10. Dezember (1929). Am Montag, dem 1. Marcheschwan (= 4.
November 1929) verstarb hier die wegen ihrer echt jüdischen Frömmigkeit,
ihrer seltenen Geistesgaben und ihres reichen jüdischen Wissens in weiten
Kreisen angesehene und geachtete Frau Emilie Rothschild im Alter
von 81 Jahren. Sie war die Tochter des ebenfalls wegen seiner umfassenden
Thauro-(Tora-)kenntnis und der in ihr wurzelnden Gottesfurcht
bekannten und geehrten Chower (Gelehrten) Mauscheh Bing - seligen
Andenkens - in Oberseemen. Seit 1873 bis 1905 lebte sie in inniger
Harmonie an der Seite ihres gleichgesinnten Gatten, welchen sie in diesem
Jahre verlor, ihre Kinder im Geiste des überlieferten Judentums
erziehend. Trotz schwerer und schmerzlicher Schicksalsschläge, welche ihr
nicht erspart blieben, blieb sie standhaft in unerschütterlichem
Gottvertrauen, ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten in den Dienst
jüdischer und allgemein menschlicher Aufgaben stellend. Bis in die
letzten Stunden nahm sie mit ihrem regen Geiste und Scharfblick Interesse
an allen Vorgängen der jüdischen und allgemeinen Öffentlichkeit,
insbesondere der hiesigen jüdischen Gemeinde. Seit Gründung des
Jüdischen Frauenvereins war sie Vorstand desselben, seine Geschäft mit
unermüdlichem Eifer und Gewissenhaftigkeit führend, und in den letzten
Jahren in Anerkennung ihrer Verdienste Ehrenmitglied dieses Vereins. Die
Verkörperung eines echten jüdischen Frauenideals, ernster religiöser Pflichttreue,
verankert in selten reichem jüdischem Wissen und starker
Überzeugungstreue, ist mit ihrem Heimgange von uns geschieden. Ihre
Seele sei eingebunden in den Bund des Lebens." |
Zum Tod vom Samson Sichel (1932)
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 27. Oktober 1932: "Oberseemen,
25. Oktober 1932. Am Simchastouroh (Feiertag Simchas Tora war am
23. Oktober 1932) ist Samson Sichel im Alter von 79 Jahren von uns
gegangen. Von der großen Wertschätzung, die er überall genoss, legte
die große Beteiligung bei seiner Beerdigung Zeugnis ab. Herr Lehrer Bauer
aus Gedern schilderte in ausführlicher Rede Einzelheiten aus dem Leben
des Verstorbenen. Er war ein Mann von Bescheidenheit, Friedensliebe und
Gottesfurcht. Bis vor kurzem nahm er an allen Gottesdiensten teil und
ließ sich nicht nehmen, alle Fasttage zu halten. Sein unauffälliges
Wirken wird ihm bei allen, die ihn kannten, ein bleibendes Andenken
sichern. Möge Gott den tief betrübten Angehörigen Trost spenden.
Seine Seele sei eingebunden in den Bund des Lebens." |
Zum Tod von Benno Bing (1935)
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 14. Februar 1935: "Oberseemen
(Oberhessen), 12. Februar (1935). Mit Benno Bing, der nach kurzer
Krankheit im 44. Lebensjahre von uns genommen wurde, hat die Gemeinde
Oberseemen eine Persönlichkeit verloren, die dazu berufen war, durch ihr
edles Beispiel ihre nähere und weitere Umgebung mit tiefer Achtung vor
dem Idealbild eines von Gottesfurcht erfassten und am Quelle der
Gotteslehre genährten echt jüdischen Menschen zu erfüllen und zur
Nacheiferung anzuregen. Aus einer Familie entsprossen, in der echte und
tiefe Religiosität Tradition war, hat der Heimgegangene durch rührende
Kindesliebe, durch eine vorbildliche Ehe und die Erziehung seiner nun so
früh der väterlichen Leitung beraubten Kinder im Geiste der jüdischen
lehre, schließlich durch die Führung seiner Gemeinde sich dieser hohen
Tradition würdig erwiesen. Die große Verehrung, deren sich Benno Bing - seligen
Andenkens - erfreut, kam in einer außerordentlichen Beteiligung, auch
der Ortsbevölkerung zum Ausdruck. Am Grabe würdigte Herr Lehrer Bauer
aus Gedern in ergreifenden Ausführungen die Persönlichkeit des
Heimgegangenen, während Herr Siegfried Strauß in herzlichen Worten des
Führers der Gemeinde und der Aguda-Ortsgruppe gedachte.
Möge der greisen Mutter, die das herbe Geschick traf, nun das letzte
ihrer Kinder beweinen zu müssen, der schwer geprüften Gattin und den
Kindern Trost und Beistand vom Allmächtigen beschieden werden. Seine
Seele sei eingebunden in den Bund des Lebens." |
Zum Tod von Betty Bing geb. Strauß (1937) - Mutter
des oben genannten Benno Bing
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 30. Dezember 1937: "Betty
Bing geb. Strauß - sie ruhe in Frieden -. Im Alter von bald 73
Jahren verstarb hier (sc. Frankfurt) Frau Betty Bing geb. Strauß, die vor
einem halben Jahre aus Ober-Seemen (Hessen) zu ihrer Schwiegertochter nach
Frankfurt zog und sich in kurzer Zeit hier die gleiche Achtung und Liebe
erworben hatte, wie sie sie in ihrer früheren Heimat in vollem Maße genoss.
Frau Bing entstammte einer Patrizierfamilie, in der Tora, Gottesfurcht und
Wohltätigkeit zuhause waren, und sie selbst hütete diese drei
Grundpfeiler des Judentums an der Seite ihres ihr in den Tod
vorangegangenen Mannes treulich und erzog auch ihre Kinder in diesem
Sinne. Als ihr auch die Kinder genommen waren, trug sie alle die
Schickungen mit dem Gottvertrauen einer frommen und fand Trost im Gebet
und im Wohl tun. Ihr Andenken wird in allen Kreisen, denen sie nahe stand,
unvergesslich bleiben. Ihre Seele sei eingebunden in den Bund des
Lebens." |
Anzeigen jüdischer Gewerbebetriebe und Privatpersonen
Anzeige von Joseph Goldschmidt (1900)
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 13. August 1900:
"Bitte!
Unterzeichneter bittet, da seine Frau schon seit zwei Jahren krank und
bettlägerig ist, mildtätige Glaubensgenossen um gütigste Unterstützung,
da ich gar nicht aus dem Hause komme, indem meine Frau Gelenkrheumatismus
hat, und sich gar nicht helfen kann.
Joseph Goldschmidt,
Ober-Seemen (Hessen). Referenzen erteilt Herr
Dr. Weißbecker." |
Bäcker Salli Strauß sucht einen Gehilfen oder Lehrling (1903 / 1904)
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 3. April 1903:
"Suche
für meine Bäckerei, Samstags geschlossen, einen Lehrjungen und einen
Gehilfen.
Salli Strauss, Ober-Seemen." |
|
Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 14. Mai 1903:
"Suche für meine am Samstag geschlossene Bäckerei einen
jungen
Gehilfen und Lehrling.
Salli Strauß, Oberseemen (Oberhessen)." |
|
Anzeige
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 10. Dezember 1903:
"Suche
für meine Bäckerei per sofort einen jungen Gehilfen und Lehrling.
Salli
Strauß, Ober-Seemen. Oberhessen." |
|
Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 11. April 1904:
"Suche für meine Bäckerei per sofort einen
Gesellen und Lehrling.
Samstags geschlossen.
Salli Strauß, Ober-Seemen (Oberhessen)." |
Schuhmacher Michael Rosenthal sucht einen Gesellen
(1918)
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in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 13. Dezember 1918:
"Selbständiger
Geselle
für Schuhmacherei auf dem Lande gesucht.
Samstags und israelitische Feiertage geschlossen. Kost und Logis im Hause.
Michael Rosenthal,
Ober-Seemen in Oberhessen." |
Sonstiges
Erinnerungen an die Auswanderungen im 19. Jahrhundert:
Grabstein in New York für David Adler aus Ober-Seemen (gest. 1856)
Anmerkung: das Grab befindet sich in einem jüdischen Friedhof in NY-Brooklyn
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Grabstein
"In Memory of
David Adler
Born in Obersemia (=Ober-Seemen)
Hesse-Darmstadt,
Died July 28, 1856
Aged 37 Years". |
Zur Geschichte der Synagoge
Zunächst war ein Betraum in einem der jüdischen Häuser
eingerichtet worden, später wurde eine erste Synagoge erbaut.
Die alte Synagoge war in den 1880er-Jahren zu klein geworden. Im Frauenbereich
hatte es nur 32 Plätze. Der Schulraum war für 21 Kinder gleichfalls zu klein. Allerdings
fehlte das Geld für einen Neubau. Erst einige Jahre später konnte der Plan
umgesetzt werden, nachdem Leopold Zimmermann aus New York einen Betrag von
20.000 Mark zur Verfügung gestellt hatte. Der Restbetrag von 5.000 Reichsmark
wurde vom Wohltätigkeitsverein der Gemeinde bezahlt. 1900/1901 konnte die neue
Synagoge nach Abbruch der alten Synagoge an ihrer Stelle erbaut werden. Die Einweihung war vom 9. bis 11. August
1901.
Erstellt
wurde ein zweigeschossiger Basalt- und Sandsteinbau mit Satteldach, dessen äußeres Erscheinungsbild bis zur
Gegenwart im ursprünglichen Zustand erhalten ist. Architekturgeschichtlich
handelt es sich um einen eklektizistischen Bau, in dem verschiedene
gestalterische Stilelemente aufgenommen wurden. Im Synagogengebäude waren neben
einem Betraum mit Empore auch die Schule, eine Lehrerwohnung und weitere
Räumlichkeiten untergebracht.
Einweihung der Synagoge im August 1901
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 1. August 1901: "Ober-Seemen,
29. Juli (1901). Vorstand und Festausschuss der hiesigen jüdischen
Gemeinde laden zu der am 9., 10. und 11. August stattfindenden Einweihung
ihrer neuerbauten Synagoge durch Zirkular ein. Das Gotteshaus ist von
Herrn Leopold Zimmermann und dessen Ehefrau Josefine geborene Wolf in New
York gestiftet. Den Anlass hierzu bot die goldene Hochzeitsfeier der
Eltern des Stifters vor vier Jahren. Leider hat die Mutter desselben die
Einweihung nicht mehr erlebt. Sie ist vor Kurzem unerwartet
verstorben.
Das Gotteshaus enthält auch zugleich Räume für die
Schule, Lehrerwohnung und sonstige Gemeindeeinrichtungen. Es hat eine
eigene Gasbeleuchtung, Wasserleitung und wird eine Zierde für die
Gemeinde bilden. Zu den Feierlichkeiten trifft der ganze Ort Vorkehrungen.
Es ist eine eigene große Festhalle errichtet, ein Teil der Regimentsmusik
des Leibgarderegiments Nr. 115 in Darmstadt gewonnen, und da ein großer
Zuzug fremder Gäste erwartet wird, so verspricht es einen glänzenden
Verlauf zu nehmen." |
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Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 22. August 1901: "Oberseemen,
4. Elul (= 19. August 1901): (hebräisch und deutsch): 'Diesen Tag hat
der Ewige geschaffen, wir wollen jubeln und uns seiner freuen', so
berichtet uns der 118. Psalm, Vers 4. Fürwahr, ein herrlicher Tag in des
Wortes schönster und edelster Bedeutung, den die israelitische Gemeinde
Oberseemen mit der Einweihung ihres neuen Beth ha-Kneseth
(Synagoge) am 9. dieses Monats zu verzeichnen hatte, welcher ihr als
treues Angebinde in steter Erinnerung bleiben wird.
Von Nah und Fern hatte unser Ort eine starke Fremdenfrequenz aufzuweisen,
aus allen Altersklassen waren ganze Menschenschwärme, den verschiedenen
Konfessionen angehörend, herbeigeströmt, um ihre Teilnahme an unserem
Weihefeste zu bezeigen.
Die Feier wurde mit dem Minchagebete im Hause des Herrn Simon Frank I,
mittags 1 Uhr, eröffnet, welcher zwei seiner Zimmer während der Zeit der
Erbauung der Synagoge, die an Stelle der früheren errichtet wurde, zum
Gottesdienste unentgeltlich zur Verfügung gestellt hatte, und wofür ihm
der wärmste Dank gebührt. Nach Beendigung des Minchah-Gebetes wurden die
Sforim (Torarollen( unter Gesang des Wajehi binsaua dem Oraun
(Toraschrank) entnommen und in den Festzug eingereiht, welcher sich mit
klingendem Spiele der Musikkapelle des Leibgarderegiments Nr. 1155 aus
Darmstadt in Bewegung setzte und durch die festlich geschmückten Straßen
nach dem neuen Gotteshause marschierte. Hier angelangt, wurde der
Schlüssel des Gotteshauses dem Vertreter der Großherzoglich Hessischen
Staatsbehörde, Herrn Geheimer |
Regierungsrat
Schönfeld aus Schotten übergeben, welcher ihn in einer Ansprache an den
Herrn Vorstand der hiesigen israelitischen Gemeinde weitergab. Dieser
überreichte ihn dem Großherzoglichen Herrn Provinzialrabbiner, der die
Synagoge erschloss und somit ihrer Bestimmung übergab. Nachdem nun die
Festgäste unter der Intonation der Musikkapelle eingezogen waren, wurde
vom hiesigen israelitischen Männerchor das Boruch habo gesungen,
dem sich das Ma tauwu anschloss. Nach Anzündung des Ner tomid
(ewiges Licht) wurde Gadlu gesungen, worauf unter Gesang von Ono die
übliche Hakofuth (Umgänge) mit den Torarollen vorgenommen und diese dann
in den Oraun (Toraschrein) verbracht wurden. Alsdann begann Herr
Provinzialrabbiner Dr. Hirschfeld aus Gießen seine Weihepredigt, in
welcher der verehrte Redner alle Anwesenden, insbesondere den Herrn
Vertreter der Großherzoglichen Hessischen Staatsbehörde und den
Geistlichen der hiesigen politischen Gemeinde begrüßte, vor allen Dingen
aber des Stifters unserer Synagoge, Herrn Leopold Zimmermann, wohnhaft in
New York, der persönlich mit seiner Gattin anwesend war, in warmen Worten
gedachte, welches große verdienstvolle Werk er vollbracht, indem er im
Verein mit seiner hochedlen Gemahlin, Frau Josefine geb. Wolf aus New
York, ein Gotteshaus der israelitischen Gemeinde Oberseemen stiftete. Zum
Lohne und zum Danke für diese hochherzige Tat hat auch die Gemeinde eine
Gedenktafel mit Inschrift in der Synagoge anbringen lassen. Herr Rabbiner
Dr. Hirschfeld ging in seiner Rede von dem Vers (Pasuk) des 122. Psalms
aus: 'Ich freute mich über die, die zu mir sagten, lasst uns zum Haus
des Herrn gehen' und schloss dieselbe mit einem Gebet auf den
Landesfürsten, worauf vom Chor nach das Halleluja vorgetragen
wurde.
Damit erreichte die religiöse Feier ihr Ende. Hierauf nahmen die
Festgäste im Festzuge vor der Synagoge wieder Aufstellung und zogen unter
dem Schall der Musikkapelle nach dem Festplatze, wo die Feier in
schönster Weise ihren Abschluss fand. Unserem Freunde Herrn Leopold
Zimmermann, nebst dessen hochedlen Gemahlin aber gebührt für ihre
Fürsorge, wodurch sie zu diesem Prachtbau verholfen, unser
tiefgefühltester Dank. Durch ihren edlen Sinn und ihre hochherzige Tat
haben sie sich die Krone eines für die hiesige israelitische Gemeinde
ewig fortbestehenden guten namens und eines treuen ewigen Andenkens
erworben und gesichert. Möge ihnen in allen ihren Unternehmungen Heil,
Glück und Segen beschieden sein. Möge das neue Gotteshaus lange Jahre
eine Stätte des Friedens und der Eintracht und ein Gotteshaus im
wahrsten Sinne des Wortes sein und
bleiben." |
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Nur 37 Jahre war die neue Synagoge Zentrum des
jüdischen Gemeindelebens am Ort. Anfang 1938 beschloss der jüdische
Gemeindevorstand nach Wegzug der meisten Gemeindeglieder die Auflösung der
jüdischen Gemeinde und den Verkauf des Synagogengebäudes an die bürgerliche
Gemeinde. Beim Novemberpogrom 1938 wurde dennoch die Inneneinrichtung
völlig zerstört. Äußerlich wurde das Gebäude nur leicht beschädigt. Im
Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude als Unterkunft für osteuropäische
Kriegsgefangene zweckentfremdet.
Nach 1945 wurde das Synagogengebäude
unterschiedlich verwendet. Einige Zeit residierte der Bürgermeister in der
ehemaligen Synagoge. In den 1950er-Jahren war ein Teil der Schule hier
untergebracht. Zeitweise war es Lager für einen Lebensmittelladen,
Produktionsstätte für eine Lederwarenfabrik. 1978 kam das Synagogengebäude in
Privatbesitz und wurde - nachdem das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt wurde
- in den folgenden Jahren von Grund auf restauriert.
Von Mitte der 1980er-Jahre bis 2013 war im ehemaligen Synagogengebäude ein
Psychotherapeutisches Institut und Tagungshaus untergebracht.
Informationsseite des
"Psychologischen Forums Offenbach" (PFO) zum Gebäude mit
Informationen zum Gebäude (externer Link)
Das Gebäude wurde letztmals 2007 renoviert.
Seit Anfang 2014 ist das Gebäude zum Verkauf angeboten, siehe unter
http://www.sparkassenmakler.de/objekt/5163002888/
Adresse/Standort der Synagoge: Mittelseemer
Straße 4-6
Fotos
(Quelle: Historische Aufnahme und Programm zur
Einladung: Arnsberg, Bilder s.Lit. S. 157; Fotos aus den 1980er-Jahren aus
Altaras s. Lit. 1988 S. 213; Fensterbild: Quelle: www.heuvelmann.name/)
Historische
Aufnahme
der Synagoge |
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Einladung
und Programm zur Einweihung der Synagoge - 9.-11. August 1901 |
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Die ehemalige
Synagoge in den 1980er-Jahren |
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Im Sommer
1980
(Quelle: www.synagogen.info, Foto
eingestellt von Karl Preuss |
Das
Synagogengebäude im Juni 1987 (links) beziehungsweise im Juni 1985 |
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Die ehemalige
Synagoge im Frühjahr 2016
(Fotos: Stephan Jäger) |
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Außenansichten
des Synagogengebäudes (bisheriges Tagungshaus "Ehemalige
Synagoge") |
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Blick auf das
Eingangsportal |
Treppenhaus |
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Raum im
Erdgeschoss |
Räume
im Obergeschoss |
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Kunstvoll
gestaltetes Rundbogenfenster |
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Links und Literatur
Links:
Literatur:
 | Paul Arnsberg: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang -
Untergang - Neubeginn. 1971. Bd. II S. 156-157. |
 | ders.: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder -
Dokumente. S. 157. |
 | Thea Altaras: Synagogen in Hessen. Was geschah seit
1945? 1988 S. 191-192. |
 | dies.: Das jüdische Rituelle Tauchbad und: Synagogen in
Hessen. Was geschah seit 1945 Teil II. 1994. S. 154 (keine weiteren
Angaben). |
 | Studienkreis Deutscher Widerstand (Hg.):
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der
Verfolgung 1933-1945. Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt. 1995 S. 322. |
 | Pinkas Hakehillot: Encyclopedia of Jewish
Communities from their foundation till after the Holocaust. Germany Volume
III: Hesse - Hesse-Nassau - Frankfurt. Hg. von Yad Vashem 1992
(hebräisch) S. 44-45. |

Article from "The Encyclopedia of Jewish life Before and During the
Holocaust".
First published in 2001 by NEW
YORK UNIVERSITY PRESS; Copyright © 2001 by Yad
Vashem Jerusalem, Israel.
Ober-Seemen
Hesse. Established in the 18th century, the community grew to 151 (17 % of the
total) in 1861 and opened a new Synagogue 40 years later. Nazi violence mounted
from 1933 and early in 1938 the community disbanded, leaving only 13 Jews. On Kristallnacht
(9-10 November 1938) a pogrom was staged. Most younger Jews emigrated before
Worldwar II; others perished in the Holocaust.

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