In Burg-Gräfenrode bestand eine kleine jüdische
Gemeinde bis 1927. Ihre Entstehung geht in die Zeit Mitte des 18. Jahrhunderts
zurück: 1721 gab es vier jüdische Haushaltungen am Ort. Die jüdischen Familien kamen ursprünglich auf dem Rheinland, aus
Weilburg sowie aus Böhmen (Reichenberg).
Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Zahl der jüdischen Einwohner wie
folgt: 1830 24 jüdische Einwohner, 1861 62 (11,3 % der
Gesamteinwohnerschaft von 548 Personen), um 1890 30, 1900 24 (4,8 % von 504), 1905 19 (von
insgesamt 483 Einwohnern). Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein verdienten
die jüdischen Haushaltsvorstände ihren Lebensunterhalt als Vieh-, Textil- und
Fourage-Händler. Die Namen der jüdischen Familien waren: Moses, Schott,
Schönberg, Hess; um 1920-1927 waren die Namen der Familien: Schott, Löwenberg,
Hoffstadt, Kirchberg, Stolp (aus Pommern).
An Einrichtungen bestanden eine Synagoge (s.u.), eine
Religionsschule, ein rituelles Bad (im Haus Kirchstraße 9, heute
Weißenburgstraße 9) und ein Friedhof. Die Gemeinde
gehörte zum Provinzialrabbinat in Gießen (nach dessen Teilung zum Liberalen
Provinzialrabbinat). Ein eigener Lehrer war am Ort vermutlich zu keiner Zeit
vorhanden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war lange Jahre als
ehrenamtlicher Vorbeter Nisan Schott tätig, der als Mohel
(Beschneider) in weitem Umkreis in höchstem Ansehen stand (siehe Bericht zu
seiner Beisetzung unten). In den 1920er-Jahren wurden die nur noch wenigen jüdischen Kinder in
Burg-Gräfenrode durch Lehrer Driels aus Groß-Karben
unterrichtet.
Im Ersten Weltkrieg fielen aus der jüdischen Gemeinde Manfred Löwenberg
(geb. 29.10.1896 in Burg-Gräfenrode, Sanitäts-Unteroffizier, bei der Bergung von Verwundeten
am 9.4.1918 tödlich getroffen), Friedrich Schott (geb. 7.11.1888 in Friedberg,
gef. 26.2.1915 Frankreich) und Emil Hoffstadt (geb. 3.1.1894 in Burg-Gräfenrode,
gest. an einem schweren
Herzschaden am 18.12.1918 - ein Jahr nach der Verwundung).
Um 1924, als noch 18 Personen zur Gemeinde gehörten (3,5 % von insgesamt 509 Einwohnern), waren die
Gemeindevorsteher Julius Löwenberg und Wolf Schott.
1927 wurde die Gemeinde aufgelöst, da kein Minjan (notwendige Zehnzahl von
Männern für den Gottesdienst) mehr zustande kam. Der letzte
Gemeindevorsteher Julius Löwenberg (1894 geboren), starb 1928 im Alter von 34
Jahren - es war die letzte Beerdigung auf dem Friedhof
der Gemeinde.
1930 waren die sechs jüdischen Familien in Burg-Gräfenrode: Kaufmann
Ludwig Schott (Freihofstraße 1), Viehhändler Josef Hoffstadt (Freihofstraße
12), Familie Löwenberg (Witwe Hanna Löwenberg mit Sohn Willi) mit
Landprodukten- und Eierhandel (Weißenburgstraße 1), Julius Löwenberg (Ilbenstädter
Straße 10), Familie Jakob mit Gemischtwarenhandel (Berliner Straße 18).
Detaillierte Angaben zu Geschichte und Schicksal der einzelnen Personen auf der Website
von Hartmut Polzer, Karben.
1933 lebten noch 13 jüdische Personen am Ort (2,9 % von 453
Einwohnern). In
den folgenden fünf Jahren sind alle jüdischen Gemeindeglieder auf Grund der Folgen des wirtschaftlichen Boykotts,
der zunehmenden Entrechtung und der
Repressalien weggezogen beziehungsweise ausgewandert. Fast alle verzogen nach
Frankfurt. Einigen gelang noch die Auswanderung; die übrigen wurden deportiert
und sind umgekommen.
Von den in Burg-Gräfenrode geborenen und/oder
längere Zeit am Ort wohnhaften jüdischen Personen sind in der NS-Zeit
umgekommen (Angaben nach den Listen von Yad
Vashem, Jerusalem und den Angaben des "Gedenkbuches
- Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft in Deutschland 1933-1945"): Lina Jakob (1878),
Alice Kaufmann geb. Hess (1866), Alex Kirschberg (1893), Recha Kirschberg geb.
Schott (1897), Inge (Ingeborg) Löwenberg (1931), Judith (Juvis) Löwenberg
(1939), Kurt Löwenberg (1933), Margot Löwenberg (1924), Martha Löwenberg geb.
Salomon (1899), Johanna Schott (1895), Ludwig Schott
(1890).
Berichte zu einzelnen Personen aus der Gemeinde Zum Tod des Mohel (Beschneiders) Nisan Schott
(1884) Anmerkung: Nisan Schott war Vater der beiden Ärzte August und
Theodor Schott, die in diesem Abschnitt genannt werden.
Artikel
in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 6. November 1884:
"Heldenbergen. Am 4. Cheschwan (= 23. Oktober 1884) verschied
unerwartet und urplötzlich bei seinem Morgenspaziergange an einem
Schlaganfalle, der nicht allein in seiner engeren Heimat, sondern weit
über deren Weichbild hinaus bekannte, hoch geachtete und wertgeschätzte Mohel
(Beschneider) - Raw Nisan Bar Rabbi Benjamin - oder Herr Nisan
Schott von Burggräfenrode, einer kleinen jüdischen Gemeinde der
Wetterau.
Wenn je eine Trauerbotschaft allgemeine Teilnahme und Bestürzung
hervorrief, so war es die rubrizierte; denn jeder fühlte die Schwere des
Verlustes, den die ganze Gegend erlitten. Hatte der Seligentschlafene auch
beinahe das 80. Lebensjahr vollendet, so waren die Väter und Mütter
gerade dadurch, dass er über 50 Jahre lang deren Kinder in den Bund
unseres Vaters Abraham aufnahm und weit über 1.000 Kinder zu
beschneiden die Würde hatte, so sehr an ihren lieben, jovialen
Schott - er ruhe in Frieden - gewöhnt, dass man ganz sein hohes
Alter vergaß und ihn immer und immer wieder zum Beschneider sich
erbat. Zu seiner hohen Ehre sei gesagt, dass, trotzdem der Zahn der Zeit
auch an seiner sonst so kräftigen Körperkonstitution genagt, so, dass
jeder Andere vielleicht gar keine Mohelschaften mehr angenommen, so war er
doch gewissermaßen beleidigt, wenn man ihn schonen, wenn man den
ehrwürdigen Greis die Beschwerden einer Reise ersparen wollte und
nach einem anderen Beschneider sich umsah. - Er diente den
weitesten Kreisen in großer Uneigennützigkeit unter teilweiser
Aufopferung seines Geschäftes, er nahm nie irgend eine Belohnung an, auch
in der Zeit nicht, wo seine Kinder noch klein und unerzogen waren. Gott,
der Vergelter alles Guten ersetzte ihm im Geschäftsleben wieder, was er
der Mizwa (dem Gottesgebot) zum Opfer brachte. Seine beiden
Söhne widmete er dem Studium der Medizin, und erlebte die hohe Freude,
dieselben als anerkannt wissenschaftlich gebildete Männer, als sehr
wertgeschätzte Ärzte in Frankfurt am Main und Hamburg viel beschäftigt
und hoch geachtet zu sehen. Sie standen tief gebeugt an der Gruft ihres
innig geliebten Vaters und wir dürfen auf dieses schöne Verhältnis die
Worte unserer Weisen anwenden (hebräisch und deutsch:)
'Es ist eine Ehre für die Kinder, einen solchen Vater zu besitzen, wie es
auch eine Ehre für den Vater ist, solche Söhne zu
haben.'
Die kleine Gemeinde Burggräfenrode verliert in ihm ihren geistigen leiter,
auf dessen Wort dieselbe aber auch wie auf ein Orakel hörte; sie verliert
ihren Sch'z und Kore (ehrenamtlichen Vorsänger und
Vorbeter). Am verflossenen Jom Kippur absolvierte er noch mit
Leichtigkeit die Gebete - Kol Nidrei, Mussah und Oneg Neila und
versah auch am Sukkot (Laubhüttenfest) noch den Gesamtgottesdienst
in alt hergebrachter Weise, andächtig und die Seinen zur Andacht
wachrufend. Darum durfte auch mit dem Prediger am Grabe die Gemeinde
Burggräfenrode in Wahrheit rufen: 'es ist gefallen die Krone unseres
Hauptes und unserer Gemeinde' (nach Klagelieder 5,16). - Zu seinem
Leichenbegängnisse waren Jehudim (fromme Juden) aus Frankfurt,
Gießen, Friedberg und allen umliegenden Landgemeinden herbeigeeilt, um
ihrem alten, ehrwürdigen Freunde die letzte Ehre zu erweisen, auch die
christlichen Bewohner des Ortes
folgten
in großer Zahl seinem Sarge. Als guter Jehudi war er stets ein hoch
geachteter, geehrter Geschäftsmann, ein Mann der Wohltätigkeit und ein
Mann der Gerechtigkeit, wie ein eifriger Förderer alles Guten, ohne damit
Aufsehen erregen zu wollen. Wäre das Wetter nicht gar zu stürmisch und rau
gewesen, es wäre sicher eine noch größere Zahl Leidtragender anwesend
gewesen, während auch noch von anderen Rednern manch passendes Wort des
Nachrufes gesprochen worden wäre. Möchten die tief betrübten Kinder und
sonstige Verwandte Trotz von Gott für ihre wunden Herzen empfangen. Sein
Name wird von Niemandem, der ihm kannte, vergessen werden und darum stets
Gutes stiften: (deutsch und hebräisch:) Das Andenken des Frommen
stiftet Segen. Seine Seele sei eingebunden in den Bund des
Lebens."
Über den Arzt Dr. August Schott (1839-1886), Sohn des
oben genannten Nisan Schott
Dr. August Schott ist am 3. Dezember
1839 in Burg-Gräfenrode geboren. Er studierte in Gießen und promovierte
1863. Er ließ sich zunächst als Arzt in Fürth im Odenwald nieder. Nach
weiteren Studien in Wien und Prag ließ er sich in Friedberg, 1873 in Bad
Nauheim nieder; ab 1875 war er gleichzeitig auch in Frankfurt am Main
tätig. Sein Lebenswerk galt der Erforschung der Herzarbeit und der
Begründung der Bad Nauheimer Quellenwirkung. Er starb 1886 -
wahrscheinlich an Typhus - und wurde auf dem jüdischen Friedhof
Rat-Beil-Straße in Frankfurt am Main beigesetzt.
Über den Arzt Prof. Dr. Theodor Schott (1852-1921),
Sohn des oben genannten Nisan Schott
Professor Dr. Theodor Schott ist am
28. März 1852 in Burg-Gräfenrode geboren. Er studierte in Gießen,
Straßburg und Berlin und ließ sich nach der Approbation 1877 in Bad
Nauheim nieder. Hier praktizierte er in den folgenden Jahrzehnten mit
großem Erfolg. Er behandelte u.a. 1898 die österreichische Kaiserin 'Sisi'
bei ihrem Aufenthalt in Bad Nauheim, war dirigierender Arzt an der
Kinderheilstätte usw. Er starb 1921.
Es sind - außer
den Friedhofsbildern - noch
keine Fotos zur jüdischen Geschichte in Burg-Gräfenrode vorhanden;
über
Zusendungen freut sich der Webmaster der "Alemannia Judaica";
Adresse siehe Eingangsseite.
November 2009:
Film bei YouTube -
"Stolperstein"-Verlegung in Burg-Gräfenrode am 29. November
2009
September 2010:Film über aus Burg-Gräfenrode stammende
Klärchen Kirschberg
Artikel vom 20. September 2010 in den "Rhein-Main-News" (Artikel):
"Film über Holocaust-Überlebende aus Karben Film über Klärchen Kirschberg aus Burg-Gräfenrode am 23. September 2010 im Karbener Kino
'CinePark" Karben: Im Zusammenhang mit der Verlegung von sogenannten 'Stolpersteinen" in der Stadt Karben bekam die Initiative "Stolpersteine-in-Karben" Kontakt zu Klärchen Kirschberg, die in Burg-Gräfenrode aufgewachsen ist und sich vor den Nazis im April 1939 mit einem Kindertransport nach England retten konnte. Sie emigrierte nach dem Krieg in die USA, heiratete und heißt jetzt Clare Zweig.
Im Oktober 2009 hat die Initiative in Hollywood (Florida) mit ihr und ihrem Mann Arnold Filmaufnahmen gemacht, in denen sie über ihre Kindheit in Burg-Gräfenrode, das Verlassen der Heimat und dem Leben in der Fremde erzählt. Inzwischen ist ein Film entstanden, in dem auch Zeitzeugen zu Wort kommen, die sich an Klärchen und an die Familie Kirschberg noch erinnern können, wie Hans Moscherosch, Karl Barth und Richard Rühle, die mit ihr eingeschult wurden..."
'Film-Premiere" ist am 23. September 2010 um 18.30 Uhr im Karbener Kino
'CinePark". Weitere Informationen und ein Trailer zum Film unter www.stolpersteine-in-karben.de.
Initiative 'Stolpersteine in Karben" Irma Mattner und Hartmut Polzer."
Mai 2011:
Klärchen Kirschberg besucht
Burg-Gräfenrode
Artikel vom 10. Mai 2011 in den "Rhein-Main-News"
(Artikel):
"'Klärchen' besucht Karben. Film mit Podiumsgespräch am 25. Mai
Karben: Bereits im vorigen Jahr wollte 'Klärchen", die sich mit einem Kindertransport nach England vor den Nazis retten konnte und jetzt in den USA lebt, nach Karben kommen. Ihren Besuch musste sie jedoch absagen, da ihr Mann Arnold plötzlich schwer erkrankte und im September verstarb. Jetzt am 19. Mai wird sie sich allein in den Flieger setzen und 13 Stunden später den Frankfurter Flughafen erreiche..."
Webportal
"Vor dem Holocaust" - Fotos zum jüdischen Alltagsleben in
Hessen mit Fotos zur jüdischen Geschichte in
Burg-Gräfenrode
Literatur:
Paul Arnsberg: Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang -
Untergang - Neubeginn. 1971. Bd. I S. 102-104.
Bei Thea Altaras: Synagogen in Hessen. Was geschah seit
1945? 1988 und dies.: Das jüdische Rituelle Tauchbad und: Synagogen in
Hessen. Was geschah seit 1945 Teil II. 1994 keine Abschnitte zu
Burg-Gräfenrode.
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hg.):
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der
Verfolgung 1933-1945. Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt. 1995 S. 327.
Pinkas Hakehillot: Encyclopedia of Jewish
Communities from their foundation till after the Holocaust. Germany Volume
III: Hesse - Hesse-Nassau - Frankfurt. Hg. von Yad Vashem 1992
(hebräisch) S. 96.
Wilfried Rausch: Burg-Gräfenroder Heimatbuch. Hrsg.
durch den Magistrat der Stadt Karben. Kap. 26: Die jüdische Gemeinde in
Burg-Gräfenrode.
Burg-Graefenrode
Hesse. Numbering 62 (11,3 % of the total) in 1861, the community disintegrated
after Worldwar I. The few Jews remaining in 1939 perished in the
Holocaust.
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