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Friedhöfe in der Region"
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Friedhöfe in den Landkreisen Fulda und Gießen"
Gießen (Hessen)
Jüdische Friedhöfe
Übersicht:
Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde
Siehe Seite zur Synagoge in Gießen (interner
Link)
Zur Geschichte der Friedhöfe
Aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit ist kein jüdischer Friedhof in
Gießen bekannt.
Die Toten der jüdischen Gemeinde wurden bis 1836 in Großenlinden
beigesetzt. Seitdem bestand ein eigener Friedhof in Gießen (alter jüdischer
Friedhof als Teil des alten städtischen Friedhof), auf dem nach einem
Gräberverzeichnis insgesamt 373 Beisetzungen vorgenommen wurde. Die
Friedhofsfläche umfasst 20,50 ar. Bis 1876 war der jüdische Friedhofsteil
durch eine Mauer vom christlichen Teil abgetrennt. Im Sommer dieses Jahres wurde
die Mauer nach einem entsprechenden Beschluss des Gemeindevorstandes der
israelitischen Gemeinde abgebrochen. Der Rabbiner und einige orthodox geprägte
Gemeindeglieder protestierten vergeblich dagegen (siehe Berichte
unten).
Seit 1908 besteht innerhalb des neuen
städtischen Friedhofes ein neuer jüdischer Friedhof. Nach einem Vertrag
mit der Stadt von 1912 wurde für die orthodoxe Israelitische
Religionsgesellschaft nochmals ein Teil abgetrennt. Auf dem Friedhof befindet
sich eine Friedhofshalle, die sowohl bei liberalen wie auch bei orthodoxen
Beerdigungen benutzt wurde. Das Dach konnte teilweise geöffnet werden, sodass
auch die orthodoxen Kohanim an der Trauerfeier teilnehmen konnten. Der Friedhof
in bis heute in Benutzung. Die Friedhofsfläche umfasst 44,20 ar.
Aus Anlass des
40. Jahrestages der Deportationen von 150 jüdischen Einwohnern aus Gießen und
Wieseck in die Vernichtungslager des Ostens wurde 1982 eine Gedenksäule
auf dem Friedhof errichtet.
Eine schwere Friedhofschändung wurde auf dem Friedhof 1981
verübt. Dabei wurden 102 Gräber verwüstet, Hakenkreuze, antisemitische
Parolen, SS-Runen und Galgen geschmiert.
Berichte aus der Geschichte der jüdischen Friedhöfe
Kritik am Gemeindevorstand wegen Entfernung der
Trennungsmauer zwischen jüdischem und christlichem Friedhof (1876)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom
2. August 1876: "Gießen. In Gießen hat der Vorstand der
israelitischen Gemeinde aus eigener Machtvollkommenheit das jüdische
Begräbnis mit dem christlichen vereinbart, indem er, auch ohne nur die
Mitglieder der Gemeinde zu fragen, die Trennungs-Mauer entfernen ließ.
Die sehr wenigen gesetzestreuen Mitglieder daselbst lassen sich das
gefallen, ohne Opposition zu erheben oder den Vorstand anzuklagen, welcher
zu diesem Schritte gar nicht kompetent ist. B. Hecht." |
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Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom
9. August 1876: "Gießen, im August (1876). Zu dem Berichte
aus Gießen in Nr. 31 dieses Blattes, betreffend: die Niederwerfung der
Mauer, die den israelitischen Friedhof vom christlichen trennte, wollen
Sie gefälligst die Bemerkung nachtragen, dass der Gemeinde-Vorstand den
betreffenden Beschluss ohne Vorwissen des Herrn Rabbinen Dr. Levi
gefasst und zur Ausführung gebracht hat. Vergebens bemühte sich
dieser, ihn rückgängig zu machen; der Vorstand beharrte auf demselben
und ehe man sich's versah, lag die Mauer nieder.
Übrigens bleibt auch nach dieser Niederlegung unser Friedhof immerhin ein
für sich bestehendes, vom christlichen Friedhofe durch Wege getrenntes
Ganzes, das der Verwaltung und Aufsicht unseres Gemeinde-Vorstandes
untersteht." |
Die Beisetzung von Frau Heichelheim im falschen Grab
führt zu einem Problem - Kritik
von orthodoxer Seite (1885)
Anmerkung: die Problematik ergab sich daraus, dass eine Umbettung von bereits
beigesetzten Verstorbenen nach jüdischer Tradition nicht sein darf, da dadurch
die Totenruhe erheblich gestört wird.
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom
6. August 1885: "Gießen, 3. August (1885). Vor ungefähr drei
Monaten starb dahier die Frau des Herrn H. Schulhof und wurde neben dieser
vor etwa einem Monat Herr Moritz Heichelheim und neben diesen am
verflossenen Sonntag die Tochter des Fabrikanten Herrn Homberger zur Ruhe
bestattet. Dabei stellte sich heraus, dass letztere nicht auf dem
richtigen Platz beerdigt worden war, indem Frau Heichelheim den Platz
neben ihrem Manne nach dessen Tode beim Vorstande erkauft hatte. Ob auf
Seiten des Vorstandes oder des Totengräbers ein Fehler geschehen ist,
kann ich nicht angehen, nur das ist bekannt, dass Frau Heichelheim den
gekauften Platz reklamiert hat.
Herr Schulhof, der öfters das Grab seiner Frau besucht, bemerkte bei
seinem jüngsten Besuch am verflossenen Dienstag zu seiner Verwunderung
ein offenes Grab; auf seine Frage an den Totengräber, für wen dasselbe
bestimmt sei, erhielt er die Antwort, dass in der Klinik jemand gestorben,
der am Mittag beerdigt werden solle.
Herr Schulhof, ein religiöser Mann, sah sich veranlasst, hierüber
Erkundigungen einzuziehen und erfuhr zu seinem Erstaunen, dass die Aussage
des Totengräbers auf Unwahrheit beruhe. Auf Vorhalt des Herrn Schulhof
gestand endlich der Totengräber, dass das Grab vom Vorstande bestellt sei
und ihm der Auftrag geworden, nicht zu sagen für wen und bei Anfrage sich
obiger Ausrede zu bedienen.
Dies die Handlungsweise unseres löblichen Vorstandes! Unser Rabbiner,
Herr Dr. Levi setzte dieser aber noch die Krone
auf.
Des Mittags kam Herr Dr. Levy zu Herrn Schulhof und bat denselben, die
Erlaubnis zu erteilen, dass Frau Heichelheim zu Gefallen die Leiche seiner
Frau ausgegraben und in das neue Grab gelegt werde. Die Entrüstung, die
dieses Verlangen bei Herrn Schulhof hervorgerufen und die Aufregung,
welche innerhalb der Gemeinde entstand, mag Herr Dr. Levi belehrt haben,
dass er zu weit gegangen, und von Reue oder besserer Einsicht geleitet,
ließ er Herrn Schulhof um Verzeihung bitten.
Ob Herr Dr. Levi aus eigener Initiative oder im Auftrage des Vorstandes
gehandelt hat, weiß ich nicht.
Das Grab ist wieder bedeckt, und die Toten mögen ruhen in
Frieden!" |
Die
"Weihe" der neuen Friedhofskapelle wird vom Oberbürgermeister
abgelehnt sowie andere Fragen zur Anlage des neuen Friedhofes (1902)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 16, Juli 1903: "Gießen, 14. Juli (1902). Oberbürgermeister
Mecum erlässt in den Gießener Zeitungen folgende Erklärung: 'Der
neue Friedhof und seine Weihe'. In den ersten Tagen dieser Woche wurde
mir von verschiedenen Seiten mitgeteilt, Herr Pfarrer Naumann habe
vergangenen Sonntag in der Predigt erklärt, er beabsichtige, die
Friedhofskapelle auf dem Rodtberg kirchlich zu weihen und den
Kirchenvorstand hierzu einzuladen. Mit Rücksicht darauf, dass die
Friedhofskapelle konfessionslos ist, habe ich Herrn Pfarrer Naumann mit
Schreiben vom 8. Juli darauf aufmerksam gemacht, dass ich eine derartige
Weihe nicht zulassen könne.
Es heißt dann weiter: Der Friedhof ist nicht interkonfessionell oder
allgemein konfessionell, sondern nach allen bisherigen Beschlüssen der Stadtverordneten-Versammlung,
die allein hierüber zu bestimmen hat, ist er konfessionslos. Ferner ist
es unrichtig, dass die Friedhofskapelle das Kreuzeszeichen erhalten hat,
weil die Juden einen besonderen Platz wünschten, sondern umgekehrt,
nachdem in Folge eines Versehens die Friedhofskapelle mit dem Kreuzzeichen
versehen war, wurde für die Juden ein besonderer Platz bestimmt. Es
besteht jedoch kein Zwang, dass die Juden nun auf diesem besonderen Gebiet
beerdigt werden müssen, sondern auch der Jude wird auf dem, den Juden
nicht besonders vorbehaltenen Teil des Friedhofs beerdigt, wenn die
Hinterbliebenen dies wünschen und bei einem Reihengrabe darauf
verzichten, dass das Grab von vornherein auf 90 Jahre unberührt bleibt.
Es ist ferner nicht richtig, dass die Juden nach ihren Grundsätzen ihre
Toten nicht mitten unter die Christlichen in denselben Reihen begraben
wollen, vielmehr ist mir von zuständiger Seite (doch jedenfalls von
nicht-orthodoxer Seite, Redaktion) wiederholt versichert worden, dass dem
kein Hindernis entgegensteht. Weiterhin ist für die Evangelischen nicht
ein besonderes Gebiet des Totenackers bestimmt, sondern Evangelische,
Katholische, Juden, Andersgläubige und Ungläubige werden der Reihenfolge
nach durcheinander beerdigt". |
|
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit"
vom 6. August 1903: "Gießen, 3. August (1903). Wir erhalten
folgende Zuschrift: 'Zu dem Berichte Ihres geschätzten Blattes aus
Gießen, enthaltend die Erklärung des hiesigen Oberbürgermeisters, Herr
Mecum, in den Gießener Zeitungen: 'Der neue Friedhof und seine Weihe',
muss ich berichtigend bemerken: Bei allen Verhandlungen mit der
Stadtvertretung seitens des Vorstandes und des Rabbiners der Religionsgemeinde
ist die Bedingung gestellt worden, dass für jüdische Gräber gesonderte
Felder bestimmt werden. In diesem Punkte hat niemals eine Verschiedenheit
zwischen den beiden Religionsgemeinschaften und Rabbinern bestanden, zumal
uns dieses Recht von Anfang an eingeräumt worden ist, bevor noch 'in
Folge eines Versehens die Friedhofskapelle mit dem Kreuzeszeichen
versehen' worden war.
Von zuständiger Seite ist also die von Herrn Oberbürgermeister
Mecum angeführte Versicherung niemals abgegeben worden, vielmehr handelt
es sich nur um eine persönliche Meinung eines der jüdischen Stadtverordneten,
die dieser, wie ich bestimmt weiß, auch nur hypothetisch geäußert hat:
wenn nämlich die jüdischen Gräber nicht der Wiederbelegung entzogen
werden müssten, dann bestünde kein Hindernis, jüdische Leichen mitten
unter die christlichen zu bestatten. Übrigens hat dieser Herr sich auch
belehren lassen, dass seine Meinung irrig gewesen sei. Betreffs der
Friedhofshalle bestand allerdings die Absicht, sie vollständig
konfessionslos zu gestalten, in diesem Falle läge für mich kein Grund
vor, auf die Benutzung zu verzichten, - wenn ich nicht Kohen wäre. Mit
dem früheren Oberbürgermeister, jetzigem hessischem Finanzminister,
Herrn Dr. Gnauth, habe ich sogar darüber verhandelt, welche Einrichtung
mir die Mitbenutzung ermöglicht hätte, und hätte die Ausführung bei
der Größe des Gebäudes nicht allzu viele Schwierigkeiten verursacht,
dann wäre sicherlich auch diesem Umstande Rechnung getragen worden.
Gegenwärtig liegen die Pläne für den Bau einer entsprechenden Halle
für die Israeliten - sowohl für die Religionsgemeinde, als auch für die
Religionsgesellschaft - auf Kosten der Stadt vor, bei denen ein so
großer, besonderer Anbau vorgesehen ist, dass darin nicht nur die Kanzel,
sondern auch die Kohanim unter den Gemeindemitgliedern Platz finden
können.
Bedauerlicherweise haben sich bei unserer Friedhofsangelegenheit
Einflüsse geltend gemacht von verschiedener Seite, die mit viel weniger Recht
noch als die von Herrn Oberbürgermeister Gnauth angeführte, als zuständig
bezeichnet werden dürften. Dadurch sind für die wirklich zuständige
Seite die Verhandlungen unnötigerweise erschwert und ist manches Saatkorn
der Zwietracht ausgestreut worden, das glücklicherweise hier - trotz der
Spaltung der Gemeinde - keinen günstigen Nährboden gefunden hat.
Hochachtungsvoll Dr. Sander, Großherzoglicher
Provinzialrabbiner." |
Einweihung und erste Beisetzung auf dem Israelitischen
Friedhof (1908)
Artikel im "Frankfurter Israelitischen Familienblatt"
vom 21. Februar 1908: "Gießen. Auf dem neuen Friedhofe für
alle Bekenntnisse wurde unter Gegenwart des Oberbürgermeisters und der
Vorstandsmitglieder der israelitischen Gemeinde letzten Montag die erste
jüdische Leiche gebettet. Die israelitische Gemeinde hat ein von einem
Weg umgrenztes Terrain und eine besondere Leichenhalle; auch beansprucht
von ihr die Stadt das Recht der Wiederbelegung der Grabstätten erst nach
90 Jahren (bei den Andersgläubigen nach 30 Jahren). Ein besonderes
Eingangstor für den israelitischen Teil des Friedhof und die Übergabe
des Eigentumsrechts an die israelitische Gemeinde hatte die Stadt
abgelehnt." |
Beitrag über "Das Begräbniswesen der Israeliten
Gießens" (1908)
Anmerkung: der von Josef Marx erstellte Beitrag erschien im "Gießener
Anzeiger" vom 20. Februar 1908; zugesandt von Dagmar Klein,
Gießen)
"Das
Begräbniswesen der Israeliten Gießens.
Der alte israelitische Friedhof auf dem Nahrungsberg, welcher bis auf
einige Erbbegräbnisse nun vollständig belegt ist, wurde am Freitag, den
4. November 1836 mit der Beerdigung eines 83-jährigen, in der Klinik
verstorbenen Mannes seiner Bestimmung übergeben.
Schon im Jahre 1834 hatte die israelitische Gemeinde die Anlage eines
eigenen Friedhofes in Gießen ernstlich ins Auge gefasst. Der
Stadtvorstand, an den man sich dieserhalb wandte, forderte 3 1/2 fl. für
die Rute, einen für damalige Zeiten enorm hohen Preis, und wollte auch
selbst den Platz bestimmen. Taxatoren schätzten schließlich das Gelände
auf dem jetzigen alten Friedhofe zu 1 fl. 5 kr. pro Klafter ab. Die
Gesamtkosten zur Anlage des Friedhofes betrugen 1600 fl.
Bis zum Jahre 1836 beerdigten die Israeliten Gießens und folgender
umliegenden Ortschaften ihre Toten auf einem großen Begräbnisplatz zu
Großen-Linden: 1. Wieseck; 2. Heuchelheim; 3. Großen-Linden; 4.
Langgöns; 5. Kirchgöns und Pohlgöns; 6. Leihgestern; 7. Steinberg; 8.
Watzenborn; 9. Garbenteich; 10. Steinbach. Sämtliche Gemeinden hatten
sich dahin geeinigt, die Oberaufsicht über den Friedhof zu Großen-Linden
dem Vorsteher von Kirchgöns zu übertragen. Dieser hatte als
Unteraufseher den Flurschützen zu Großen-Linden, der laut landrätlicher
Verfügung hierfür eine jährliche Gebühr erhielt. Bis zum Anfange des
18. Jahrhunderts scheint sich auf dem Gebiete des Begräbniswesens alles
glatt abgewickelt zu haben. Die Verstorbenen wurden nach damaliger Sitte, möglichst
noch am Todestage, spätestens jedoch am folgenden Tage beerdigt.
Unterm 8. April 1828 verfügte der Landrat, dass der jüdische Begräbnisplatz
zu Großen-Linden mit einer Umzäunung versehen werden müsse, andernfalls
die Umfassung behördlicherseits angeordnet werden und die entstandenen
Kosten eingetrieben werden müssten. Dem Verlangen des Landrats wurde
alsdann auch sofort entsprochen und dem Flurschützen Johann Müller für
Beaufsichtigung des Judenbegräbnisplatzes 2 fl. pro Jahr bewilligt. Trotz
dieser Aufsicht war bereits im Jahre 1833 keine Spur von der Hecke des
Totenackers mehr vorhanden, die im Jahre 1828 neu angelegt worden war. An
dem Tore waren die Kloben weggerissen. Die Umzäunung der Anliegenden war
ganz unversehrt. Der ganze Friedhof glich einem Ackerfelde. Auf eine
Beschwerde an den Kreisrat ersuchte dieser den Bürgermeister Lenn um eine
strengere polizeiliche Aufsicht und bestimmte, dass in Zukunft die
Flurschützen erst dann ihre Vergütung erhalten sollten, wenn sie ein
Zeugnis des ersten Vorstehers beibringen könnten. Diese und andere
Missstände, welche sich zu dieser Zeit mehr als je bemerkbar machen, veranlassten
den Vorstand der Gießener israelitischen Religionsgemeinde, die Anlage
eines neuen Friedhofes in unserer Stadt ins Auge zu fassen. Es ist
unbegreiflich, dass man bei den Erörterungen hierüber den Friedhof zu
Großen-Linden vollständig vergessen zu haben schien. Wäre es sonst
möglich gewesen, dass man mit einem wahren Vandalismus die Grabdenkmäler
beschädigte und zum Teil niederriss? Noch einmal, im Jahre 1838,
erklärte der beauftragte Vorstand des Friedhofes zu Großen-Linden den
Vorständen der israelitischen Religionsgemeinde Gießen, dass er die zur
Sicherheit der Gräber erforderliche Umzäunung nicht allein anfertigen
lassen könne, da es mit einem kleinen Aufwand nicht getan sei. Der
Vorstand bat alsdann um einen speziellen Kostenüberschlag. Im Übrigen
blieb alles, wie es nun schon fünf Jahre bestand. Dabei kamen die
Gießener Gemeindemitglieder, deren Angehörige dort begraben waren,
zweifellos alljährlich zum Besuche der Grabstätten nach Großen-Linden
und konnten aus eigener Kenntnis die immer fortschreitende Verwilderung
des Friedhofes konstatieren. Allein keine Hand rührte sich. Man hatte ja
jetzt in Gießen einen eigenen Friedhof und bekümmerte sich nicht mehr um
den zu Großen-Linden, der mit der Zeit von den Bauern benützt wurde, als
wäre er ihr volles Eigentum. Da niemand Klage erhob, nahmen sich einige
kurzer Hand das Recht, ein Stück nach dem anderen mit einer Hecke zu
versehen und als ihr Eigentum zu proklamieren. Auf dem
Nachbargrundstücken des jetzigen jüdischen Friedhofes zu Großen-Linden,
die zurzeit Eigentum verschiedener Ortseinwohner sind, befinden sich eine
große Anzahl jüdischer Grabsteine, ein Beweis, dass auch diese
Grundstücke ursprünglich zu dem gleichen Begräbnisplatz gehörten. Nach
dem israelitischen Ritus ist die Veräußerung eines Friedhofes, sowie die
Benutzung eines solchen zu landwirtschaftlichen Zwecken strengstens
verboten und ein Verkauf auch nur einzelner Teile undenkbar. Die früheren
Inhaber der betreffenden Friedhofsgrundstücke konnten also unmöglich
einen Erwerbstitel darüber besitzen, vielmehr muss seinerzeit eine
widerrechtliche Aneignung derselben stattgefunden haben. Eine Anzahl von
Parzellen mit Grabsteinen soll seit über 60 Jahren im Besitze von
Privaten sein; auf den übrigen Grundstücken hat man anscheinend die Denkmäler
entfernt.
Da das Grundbuch im Jahre 1856 legalisiert wurde, konnte eine Änderung im
Verwaltungswege nicht herbeigeführt werden. Auch Bemühungen, auf
gütlichem Wege etwas zu erreichen, waren bisher vergeblich. Das Gesetz
über den Denkmalschutz verhindert wenigstens die Entfernung der noch
erhaltenen Denkmäler. Allein die betreffenden Grundstücke sind und
bleiben Eigentum der jetzigen Inhaber, falls nicht die Gießener
israelitische Gemeinde unter schweren finanziellen Opfern dieselben
ankaufen sollte, wozu wohl wenig Aussicht vorhanden ist.
Die vorgestern ihrer Bestimmung übergebene israelitische Abteilung des
neuen Friedhofs am Rodtberg liegt im nordöstlichen Teile des bis jetzt
eröffneten Geländes. Es sind hier 1049 Grabstätten vorgesehen, und zwar
78 Erbbegräbnisse an der Mauer, 16 Einfassungsgräber daselbst, 60
Gräber für Erbbegräbnisse, 585 Reihengräber für Erwachsene, 39
Gräber für Kinder von 3-10 Jahren, 271 Gräber für Kinder von 0-3
Jahren.
Das für die Israeliten bestimmte Friedhofsgebäude wurde im September
1907 fertiggestellt.
Der Neubau ist in spätromanischen Formen nach dem Entwurf und unter
Leitung des Stadtbaumeisters Gerbel ausgeführt. Für das am südlichen
Giebel vorgebaute Portal, für Tür- und Fensterumrahmungen, Gesimse und
Giebelabdeckungen ist roter Mainsandstein verwendet, für die Trittstufen
Odenwälder Granit; die äußeren Mauerflächen sind in Basaltlava
hergestellt.
Die hebräische Inschrift über dem Hauptportal ist dem Buche Hiob, Kap.
1,21 entnommen und lautet in deutscher Übersetzung: 'Der Ewige hat's
gegeben, der Ewige hat's genommen, der Name des Ewigen sei
gepriesen!'
Der südliche Teil des Baues, der die Trauerversammlungshalle mit einer
Bodenfläche von 70 Quadratmeter enthält, ist durch eine überwölbte Vorhalle
mit dem nördlichen Anbau verbunden. In diesen befinden sich drei
Leichenzell3en, an welche sich zwei Räume für die Leichenwache und die
übrigen erforderlichen Nebenräume anschließen. Die Baukosten
betragen 35.000 Mark für den Bau und die innere Einrichtung, und 2500
Mark für die Anpflanzung der Umgebung, die Anlage eines Brunnens und die Herrichtung
der Wege.
Plan und Ausführlich des Gebäudes zeugen von feinem Geschmack und
rechtem Verständnis für die Forderungen, die an diesen ernsten Ort
gestellt werden. Mit dem Danke, welchen die Israeliten Gießens der
Stadtvertretung zollen für die bereitwillige Erfüllung aller Wünsche, soweit
sie religiösen Bedürfnissen entsprangen, verbindet sich der Dank gegen
Herrn Stadtbaumeister Gerbel, der mit einem reichen Maße von Liebe sich
seiner Aufgabe entledigte. Josef Marx." |
Die Israelitische Religionsgesellschaft möchte einen eigenen
Gemeindefriedhof (1908)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom
14. Mai 1908: "Gießen, 12. Mai (1908). Die hiesige
israelitische Religionsgesellschaft hat in der letzten Generalversammlung
einstimmig beschlossen, einen neuen eigenen Gemeindefriedhof zu erwarben.
Bekanntlich hat die neologe Gießener Gemeinde vor kurzem mit der Stadt
einen Vertrag abgeschlossen, wonach die jüdischen Toten auf einem
besonderen Teile des kommunalen Begräbnisplatzes bestattet und dort ganz
nach Ermessen der Stadt ganze dreißig, beziehungsweise neunzig Jahre in
Ruhe gelassen werden. Der 'Israelit' hat dieses empörende Attentat auf
die Vorschriften des jüdischen Religionsgesetzes in Nr. 10 gebührend
gekennzeichnet. Umso erhebender und erfreulicher ist es nun, dass die
kleine Gießener Religionsgesellschaft, die sich auf Grund staatlicher
Anerkennung einer guten intensiven und extensiven Entwicklung erfreut,
nunmehr in einmütiger Begeisterung einen Beschluss gefasst hat, der, ganz
abgesehen von seiner sachlichen Notwendigkeit, einen nachdrücklichen
Protest gegen das Verhalten der neologen Gemeinde und eine wirksame
Wahrung jüdischer Religionsgrundsätze im Lichte der Öffentlichkeit
darstellt. Wie schmerzlich im Lager unserer neologen Fanatiker diese
Tatsache empfunden wird, zeigt die nachfolgende Notiz der in Frankfurt
Main erschienenden 'Kleinen Presse':
Gießen, 11. Mai. Die Einheit in der Beerdigung aller Einwohner,
gleichviel welcher Konfession, die nach vielen Verhandlungen hier endlich
hergestellt ist, scheint nun nachträglich in die Brüche gehen zu sollen.
Die Israelitische Religionsgesellschaft, der die Minderheit unserer
jüdischen Mitbürger angehört, hat beschlossen, sich einen eigenen konfessionellen
Friedhof anzuschaffen. Allerdings sind die Mittel dazu noch nicht
vorhanden, doch hat man eine Kommission gewählt, die de Gelder
beschafften soll. Man hofft hier, dass dieser Plan an den Einspruch des
hessischen Ministeriums, dem die Genehmigung der Friedhöfe zusteht,
scheitert, umso mehr, als ein Bedürfnis für einen besonderen
israelitischen Friedhof nicht vorhanden ist, nachdem die Stadt eben erst
auch nach dieser Richtung mit großen Opfern Sorge getragen
hat.
Angesichts des weitgehenden Verständnisses, das die Hessische Regierung
bisher den Interessen der Gewissensfreiheit im Kreise der Judenheit
entgegengebracht hat, zweifeln wir nicht daran, dass die edlen Wünsche
des Verfassers die Bemühungen der Gießener Religionsgesellschaft vollen
Erfolg haben werden." |
Die Israelitische Religionsgemeinde bittet um
Mitbenutzung der Israelitischen Leichenhalle und um Anlegung eines Weges von der
Leichenhalle zu ihrem Friedhof (1910)
Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 21. Oktober 1910: "Gießen, 14. Oktober (1910). In einer
der letzten Sitzungen der Stadtverordneten lag zum zweitenmal der Antrag
der orthodoxen Religionsgemeinde zur Beschlussfassung vor, die Stadt möge
den Mitgliedern der Religionsgemeinde die Mitbenutzung der auf dem
Kommunalfriedhof am Rodberge errichteten Israelitischen Leichenhalle
gestatten, ferner möge die Stadt einen Hohlweg überbrücken zur
Herstellung eines Weges von der Leichenhalle nach einem von der
Antragstellerin erworbenen Gelände, das als Sonderfriedhof für die
Gesellschaft benützt werden soll. Die Juristische Kommission, an die der
Antrag verwiesen worden war, beantragte dessen Ablehnung. Zur Begründung
wurde ausgeführt: Die Israelitische Religionsgesellschaft, die sich 1898
von der großen Muttergemeinde abgezweigt hat, besitzt zwar die Rechte
eine juristischen Person, ein weitergehender Antrag jedoch, die Verordnung
vom Jahre 1841 betreffend die Bildung der Vorstände der israelitischen
Religionsgemeinden und die Verwaltung von Gemeindevermögen auf die
Israelitische Religionsgesellschaft für anwendbar zu erklären, wurde vom
Ministerium abgelehnt. Hiernach sei die Vereinigung keine anerkannte
Religionsgemeinde, sondern einer Sekte gleich zu erachten. Wollte man
durch Zustimmung zu dem Anfrage einen konfessionellen Sonderfriedhof
schaffen helfen, so müsste man auch jeder anderen Sekte das gleiche
gewähren. Da nun die Stadt für die Bürger aller Bekenntnisse eine
gemeinsame Ruhestätte geschaffen hat, müsse man durch Ablehnung des
Antrages die Anlage eines Sonderfriedhofes erschweren, und wenn tunlich
unmöglich machen. Die Stadtverordnetenversammlung lehnte, dem Vorschlag
der Kommission entsprechend, die Anträge einstimmig
ab." |
Bemühungen der Israelitischen Religions-Gesellschaft um
Anlage eines eigenen Friedhofes (1911)
Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 20. Januar 1911: "Die Israelitische Religions-Gesellschaft in
Gießen, die sich bei der Stadt wegen Anlegung eines konfessionellen
Sonderfriedhofs vergeblich bemüht hatte, versucht nun im
Verwaltungsstreitverfahren dies zu erreichen und hat dieserhalb die Stadt
beim Kreisausschuss verklagt. Der Oberbürgermeister bestritt in der mündlichen
Verhandlung die Zuständigkeit des Kreisausschusses. Er, der
Bürgermeister, habe als zuständiger Beamter die Anlage eines
konfessionellen Sonderfriedhofs, weil ein Bedürfnis dafür nicht
vorliege, versagt. Gegen die se Entscheidung sei nur die Beschwere an den
Kreisrat und an den Minister zulässig. Der Kreisausschuss setzte die
Verhandlung aus, um sich über den Einwand schlüssig zu
machen." |
Friedhofsangelegenheit der Israelitischen
Religionsgemeinschaft vor der Zweiten Kammer (1911)
Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom
16. März 1911: "Darmstadt, 10. März (1911). In der
Nachmittagssitzung der Zweiten Kammer am 9. dieses Monats brachte
Abgeordneter Schmitt (Zentrum) bei der Generaldebatte über den
Etat des Ministeriums des Innern auch die Friedhofsangelegenheit der
Israelitischen Religionsgesellschaft in Gießen zur Sprache. Nach dem
Gesetz über das Beerdigungswesen, so führte der Redner aus, stehe den
einzelnen Konfessionen das Recht zu, gesonderte Friedhöfe anzulegen. Der
israelitischen Religionsgemeinschaft sei dies abgeschlagen worden, weil
auch dem allgemeinen Friedhof genügend Raum vorhanden sei. Das Kreisamt
Gießen habe sich dabei auf den Artikel 5 des Gesetzes gestützt. Dadurch
werde aber das in Artikel 3 aufgestellt Prinzip
eingeschränkt.
Darauf erwiderte der Minister des Innern v. Hombergk, dass in dieser
Angelegenheit die Entscheidung des Ministeriums angerufen worden sei, das
demnächst darüber beschließen würde.
Es ist also der Ausgang der Sache noch abzuwarten. Auf jeden Fall darf
angenommen werden, dass das Ministerium, unbeeinflusst von den lokalen
Gießener Strömungen, eine gerechte Entscheidung fällen
wird." |
Einigung zwischen Stadt und israelitischer Gemeinde im Blick
auf den "Friedhofsstreit" (1912)
Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums"
vom 16. August 1912: "Zwischen der Stadtverwaltung in Gießen und der
israelitischen Gemeinde ist in Sachen des Friedhofsstreites folgender
Einigungsmodus zustande gekommen: Die Stadt bestimmt auf dem zur
Beerdigung von Israeliten abgegrenzten Teile des Friedhofes ein besonderes
Gräberfeld ausschließlich zur Einrichtung von Erbbegräbnisstätten,
welche absolute Inexhumabilität genießen, nicht nur paarweise, sondern
auch einzeln abzugeben sind und eine eigene Gebührenordnung
erhalten." |
Lage der Friedhöfe
Der alte Friedhof liegt an der Licher Strasse (am Rodberg bzw.
Nahrungsberg); der neue Friedhof innerhalb des städtischen Friedhofes am Ende
der Marburger Straße.
 |
Lage der jüdischen Friedhöfe
in Gießen auf dem dortigen Stadtplan: links anklicken und beim
alten
Friedhof im Straßenverzeichnis "Licher Straße" eingeben bzw.
beim neuen Friedhof
unter
"Behörden und öffentliche Einrichtungen" weiterklicken zu
"Friedhofshalle, jüd. (Neuer Friedhof)" |
Fotos
Erinnerungsarbeit
vor Ort - einzelne Berichte
November 2004:
Friedhofsführung durch die Kunsthistorikerin und
Stadtführerin Dagmar Klein |
Artikel
im "Gießener Anzeiger" vom 25. November 2004: "Hinter
jedem Namen die Geschichte eines Menschen.
Führung 'Die jüdischen Gräber auf dem Neuen Friedhof in Gießen' -
Schicksale während der Zeit des Nationalsozialismus..."
Zum Lesen des Artikels bitte Textabbildung
anklicken |
|
|
Links und Literatur
Links:
Quellen:
Hinweis
auf online einsehbare Familienregister der jüdischen Gemeinde
Gießen |
In der Website des Hessischen Hauptstaatsarchivs
(innerhalb Arcinsys Hessen) sind die erhaltenen Familienregister aus
hessischen jüdischen Gemeinden einsehbar:
Link zur Übersicht (nach Ortsalphabet) https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/llist?nodeid=g186590&page=1&reload=true&sorting=41
Zu Gießen sind vorhanden (auf der jeweiligen Unterseite zur
Einsichtnahme weiter über "Digitalisate anzeigen"):
HHStAW 365,829 Geburtsregister der Juden von Gießen -
Wieseck 1776 - 1816 - Auszug aus dem Kirchenbuch der
evangelischen Pfarrei Wieseck, zusammengestellt 1943 https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction?detailid=v5135969
HHStAW 365,368 Geburts-, Trau- und Sterberegister der Juden
von Gießen 1788 - 1837, enthält Verzeichnis der Geburten,
Trauungen und Sterbefälle, nach 1934 zusammengestellt auf Grundlage von
Akten des Stadtarchivs Gießen durch Josef Marx, Kantor und Lehrer in
Gießen von 1891 bis 1934 https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction?detailid=v289937
HHStAW 365,370 Gräberverzeichnis des jüdischen Friedhofs
am Nahrungsberg in Gießen, zusammengestellt auf Grundlage des
Memorbuches und der Sterbeurkunden durch Josef Marx, Kantor und Lehrer in
Gießen, Laufzeit 1836 - 1908, enthält Gräberverzeichnis und
Alphabetisches Register der Verstorbenen mit Angabe der
Grabnummer https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction?detailid=v2573921
HHStAW 365,369 Gemeindebuch der jüdischen Gemeinde Gießen
mit Angaben zu Trauungen, Sterbefällen, Schulinspektionen und
Religionsprüfungen 1903 - 1911 https://arcinsys.hessen.de/arcinsys/detailAction?detailid=v1030578
|
Literatur:

vorheriger Friedhof zum ersten
Friedhof nächster Friedhof
|