D Zuflucht
für verfolgte jüdische Mitbürger im Pfarrhaus in Ispringen: Otto Riehm und
Frau, 1937-1944
Ein
erschütterndes Beispiel für selbstverständliche Hilfeleistung, die aber nicht mehr
selbstverständlich war, stellte die Gewährung von Asyl für das Ehepaar Ines und
Max Krakauer durch eine Kette hilfsbereiter Familien dar, in erster Linie in
Württemberg. Am 29. Januar 1943 war das jüdische Ehepaar in Berlin
untergetaucht. Nach zwanzig Verstecken im Großraum Berlin und in Pommern führte
sie die Flucht nach Süddeutschland, wo sich ihnen 43 Mal Türen vor allem von
Menschen auftaten, die der Bekennenden Kirche angehörten. Erst am 23. April
1945 endete die Flucht mit der Befreiung durch die amerikanischen Truppen in
Stetten im Remstal. In diese Kette hatte sich Ende April / Anfang Mai 1944 für
vierzehn Tage auch die badische Pfarrfamilie Gertrud Riehm geb. Meerwein
(1892-1983) und Otto Riehm (1891-1978) in Ispringen eingereiht. Die Riehms waren
1933 nach Ispringen gekommen. Sie blieben dort bis 1948. Otto Riehm war
Mitglied der Bekennenden Kirche. Er gehörte zu denen, die sich geweigert
hatten, den Eid auf den Führer abzulegen (vgl. Dok. 2000). Schon 1937 war der
"Evangelische Gemeindebote für Ispringen und Ersingen" unter
Vorzensur der Geheimen Staatspolizei gestellt worden. Otto Riehm hatte vor
allem auf dem Hintergrund des Auftretens von Reichbischof Müller in Karlsruhe
im März 1937 ein göttliches Strafgericht gegenüber einem Antichristentum
angekündigt und die Mitverantwortung der evangelischen Gemeinde "für unser
deutsches Volk" angemahnt. Am 7. Juli 1939 wurde Riehm vor dem
Sondergericht in Mannheim neben den Pfarrern Schnebel, Diemer und Haas wegen
illegalen Verteilens von Flugblättern der Bekennenden Kirche (zu Gunsten des im
Konzentrationslager festgehaltenen Martin Niemöller) zu zwei Monaten Gefängnis
verurteilt (vgl. Dok. 2010, 2052). Auf Grund der Intervention von
Oberkirchenrat Dr. Otto Friedrich und einer Amnestie bei Kriegsausbruch musste
er allerdings die Strafe nicht antreten (vgl. Dok. 2011). Dies zeigt, unter
welchen bedrohlichen Umständen einer ständigen Überwachung die Pfarrfamilie im
Mitwissen der Kinder bereit war, verfolgten Menschen vorübergehend Zuflucht zu
gewähren.
2050 Ein jüdisches Ehepaar im Untergrund findet Aufnahme im
Pfarrhaus Ispringen, Ende April / Anfang Mai 1944
Max Krakauer, Lichter im Dunkel. Flucht
und Rettung eines jüdischen Ehepaares im Dritten Reich, Stuttgart 1947. Neu
hrsg. von O. Mörike, mit e. Geleitw. von M. Haug. 10. Aufl., Stuttgart 1991, S.
99-105, 131
„Schon seit langem
war ich mit meinen vielen Helfern darüber einig, daß es das beste sei, die
Gegend zu wechseln. Da es in der näheren Umgebung von Stuttgart nunmehr
offenbar endgültig nichts mehr für mich zu hoffen gab, hatte Pfarrer M. uns ein
Unterkommen in Ispringen bei Pforzheim beschafft. Damit standen wir wieder vor
der Frage, wie dahin kommen, ohne die Bahn zu benutzen. Ein regelrechter
Schlachtplan mußte entworfen werden. In Eßlingen, wohin ich laufen mußte,
konnte ich eine Nacht bei Pfarrer Sch. bleiben. Am nächsten Morgen brachte mich
der Hausherr selbst zum Bahnhof; mit einem Vorortzug fuhr ich bis Cannstatt und
dann mit der Straßenbahn bis Weil im Dorf, lief nach Korntal, wo ich im
Pfarrhaus rastete, um dann das Strohgäubähnchen wieder einmal bis Weissach zu
benutzen. Von dort aus wanderte ich bis Pforzheim und schleppte das
Notwendigste in einer schweren Handtasche mit. Diese 25 Kilometer fielen mir
unendlich schwer, ein Gallenleiden verursachte mir immer heftigere Schmerzen.
Durch die Stadt Pforzheim selbst konnte ich zwar die Straßenbahn benutzen, aber
an den letzten drei Kilometern bis Ispringen wäre ich beinahe gescheitert.
Neben den körperlichen Schmerzen folterte mich die Erkenntnis, daß mein
Gesundheitszustand mir im Ernstfalle wahrscheinlich nicht mehr erlauben würde,
den Marsch über die Schweizer Grenze, unsere große Sehnsucht, anzutreten.
Schweren Herzens begrub ich an jenem Tage diese Hoffnung. Bei meiner Ankunft in
Ispringen muß ich wirklich erbarmungswürdig und mitgenommen ausgesehen haben.
Viel Kopfzerbrechen machte uns als nächstes die Frage, wie meine Frau von
Göppingen nach Ispringen kommen sollte. Fußmarsch, wie ich ihn hinter mir
hatte, war ausgeschlossen. Da setzte sich Pfarrer D. persönlich auf die Bahn,
um sie zu holen. Sorgfältig berechnend stellte er alle Züge zusammen, die auf
dieser nicht sehr kurzen Strecke in Frage kamen, denn nur Arbeiter- und
sogenannte Milchzüge durften benutzt werden, von denen man annehmen konnte, daß
sie von Ausweiskontrollen verschont wurden. Die Reise dauerte von 6 Uhr morgens
bis 4 Uhr nachmittags, außer längeren Aufenthalten auch noch durch einen jetzt
fast unausbleiblichen Fliegeralarm unterbrochen. Auch diese Expedition glückte,
und nach langem Bangen umeinander sahen wir uns endlich wieder. Denn zu unseren
sonstigen Sorgen trat bei einer Trennung immer noch die, daß einer von uns
beiden alleine entdeckt und abtransportiert würde und der andere müßte zurückbleiben.
Zwei Wochen weilten
wir im Hause des Pfarrers R[iehm], zwei Wochen voller Harmonie auch mit den
über uns eingeweihten erwachsenen Kindern, soweit sie im Hause waren oder
besuchsweise heimkehrten. Ihnen allen, die so viel Verständnis für uns hatten,
konnten wir unser Herz ausschütten, denn unser Mut, durchzuhalten, sank immer
mehr in sich zusammen. Kein Dämmerstreifen zeigte sich am Horizont, der den Tag
unserer Rettung ankündigte. Der Ernst unserer Lage nahm zu und auch die Sorge
um unser Kind, von dem wir nicht wußten, ob und wie es lebte, und um unsere
verschleppten Verwandten und Freunde wurde immer drückender. Wieder einmal kam
die Sprache auf das brennendste Problem unserer Wanderschaft, die fehlenden
Ausweispapiere. Da glaubte Frau Pfarrer R[iehm] helfen zu können, weil sie mit
dem Posthalter am Ort auf gutem Fuße stand, und mit ihm setzte sie sich in
Verbindung, um uns einen Postausweis zu besorgen. Wir seien nach einem schweren
Luftangriff auf Berlin, bei dem alle unsere Papiere verbrannten, nach
Ispringen gekommen, gab sie als Grund an, und da wir auf der Herreise bei den
Zugkontrollen Schwierigkeiten gehabt hätten, wollten wir uns hier einen
Postausweis ausstellen lassen. Der biedere Mann sagte zu, und seine auf dem
Pforzheimer Postamt angestellte Tochter sollte uns dort legitimieren. Gespannt
stellten wir uns dort ein, gaben unsere Personalien an, d. h. die Namen Hans
und Grete Ackermann, und schoben die erforderlichen Bilder durch den Schalter.
Dann wurden wir auf einen späteren Tag bestellt. Wir erschienen abermals und
zuckten zusammen. Ein anderer Beamter saß da, und er schien ein besonders
treuer Diener des Dritten Reiches zu sein, der seine Sache sehr genau nahm.
Aber zurück und ausweichen konnten wir jetzt nicht mehr, wenn wir uns nicht
erst recht verdächtig machen wollten. Seine vielen umständlichen Fragen
brachten uns beinahe zur Verzweiflung, und wir waren schon sicher, daß er uns
Schwierigkeiten bereiten würde. Dann aber sagte er uns doch zu, die Ausweise
würden wie üblich als Einschreiben geschickt. Ein Stein fiel uns vom Herzen,
und hochbeglückt zogen wir nach Ispringen zurück. Jetzt würden wir bald einen
gültigen Postausweis mit Lichtbild bekommen. Meine Frau fiel der Pfarrerin um
den Hals, als sie ihr diese Nachricht brachte. Doch deren Gesicht blieb starr.
Als Antwort auf diesen Ausbruch der Freude wußte sie nur zu sagen, daß in der
Zwischenzeit ein Landjäger im Pfarrhaus vorgesprochen habe und nach uns
fragte. Wir waren wie von einem Keulenschlag getroffen und zu keiner Äußerung
fähig. So nahe am Ziele scheitern zu sollen, dünkte uns grausamer als alles
bisherige. Denn durch diesen Mißerfolg war unsere Lage schlimmer als zuvor.
Jetzt hatten sie Verdacht geschöpft! Jetzt waren sie uns auf der Spur! Die
Polizei zog Erkundigungen ein! Trotz der allgemeinen Verstörtheit wirkte es
lächerlich, daß der Gendarm unter anderem auch gefragt hatte, ob wir nicht verkleidete
Engländer seien. Bezeichnend für die damalige Spionenfurcht! Da er mit den
Ergebnissen seines Verhörs offenbar nicht viel anfangen konnte, kündigte er an,
daß er wiederkommen werde, sobald wir zurück seien, um uns persönlich zu
vernehmen. Damit blieb für uns nur eine Möglichkeit: schnell fort, weg aus dem
Pfarrhaus, weg aus Ispringen. Aber wohin? Unser nächstes Quartier war erst in
ein bis zwei Wochen frei, und alle Versuche des Ispringer Pfarrers, uns im
Badischen unterzubringen, waren gescheitert. Damit waren wir also so weit, daß
wir auf der Straße nächtigen mußten. Doch davon wollten unsere Gastgeber nichts
hören und hielten uns zurück. So mußten wir bleiben, wohl oder übel. Es ging
uns dabei in der Hauptsache noch nicht einmal um uns selber. Wir waren mürbe
geworden von der endlosen Hetze, und früher oder später würde uns unser
Schicksal doch ereilen. Was uns dagegen die Besinnung nahm, war die
Vorstellung, daß wir auch die Ispringer Pfarrersfamilie mit in den Abgrund
reißen würden, gar nicht zu denken an die endlose Kette unserer früheren
Helfer. Aber die beiden trugen uns gegenüber eine so täuschende Ruhe zur Schau,
daß wir uns überreden ließen zu bleiben und nicht blindlings in den dunkelnden
Abend hinauszurennen. Vollständig angekleidet verbrachten wir die Nacht
sitzend. Bei jedem Geräusch auf der Straße zuckten wir zusammen und blickten
uns an, um uns zu sagen: Es ist soweit, sie kommen. Auch die Pfarrersleute
scheinen in dieser Nacht nicht viel geschlafen zu haben, denn mehrere Male
erschienen sie in unserem Zimmer, um uns aufzufordern, uns doch etwas hinzulegen.
Der nächste Tag war ein Sonntag, und Pfarrer R[iehm] hatte mehrere Gottesdienste
abzuhalten, so daß ihm keine Zeit blieb, sich für uns auf den Weg zu machen.
Vergeblich versuchte meine Frau, vom Pforzheimer Postamt aus mit unserem
nächsten Quartiergeber Verbindung zu bekommen und ihn zu bitten, daß man uns
etwas früher aufnehmen möge. Sie scheiterte an der Bequemlichkeit des
Enzweihinger Posthalters, der anscheinend zu träge war, im Pfarrhaus
anzufragen. Er erklärte einfach, im Pfarrhaus sei niemand zu erreichen, und ein
Gespräch kam nicht zustande. Die Stunden vergingen. Am späten Sonntag Nachmittag
wußten wir noch immer nicht, wohin wir uns wenden sollten. Schweren Herzens
mußten wir deshalb Pfarrer R[iehm], der erst spät am Abend nach Hause kam,
bitten, doch noch zu versuchen, uns für die folgende Nacht außerhalb des Ortes
unterzubringen, irgendwo. Er tat es trotz größter körperlicher und geistiger
Abspannung, und in später Stunde brachte er den Bescheid, wir könnten im
Pforzheimer Kinderheim nächtigen. Als ob diese Zumutung noch nicht gereicht
hätte, mußten wir noch eine weitere Bitte an ihn stellen: nach Enzweihingen zu
fahren und zu fragen, ob man in der Lage sei, uns früher aufzunehmen als
vorgesehen. Lächelnd und selbstverständlich, wie seine Amtsbrüder bisher,
opferte er seinen freien Montag. Wir selbst wanderten langsam nach Pforzheim
hinein, gemartert von düsteren Vorstellungen, was die Gendarmerie inzwischen
gegen uns eingeleitet haben könnte. Vor dem Kinderheim wartete bereits die
Leiterin, weil durch ein telefonisches Mißverständnis unsere Ankunft später als
angesagt erfolgte. Sie ließ uns ein und wies uns zwei notdürftig hergerichtete
Liegestätten an; aber wir waren glücklich und dankbar, wenigstens der
unmittelbaren Gefahr entronnen zu sein. Noch vor Tagesgrauen mußten wir am
nächsten Morgen wieder aufbrechen, da die anderen Angestellten uns nicht sehen
durften, und gingen hinaus in einen kalten, unwirtlichen Maitag. Es war der 7.
Mai 1944. Vor dem späten Nachmittag konnte von Pfarrer R[iehm] keine Nachricht
da sein, und guter Rat war teuer, wo wir den ganzen Tag verbringen sollten. Das
Unheimliche an unserer neuen Situation war ja, daß unsere Häscher jetzt unsere
Bilder besaßen. Wir hatten sie für den ersehnten Ausweis am Schalter des
Pforzheimer Postamtes abgegeben. Hatte man allen Ernstes Verdacht geschöpft, dann
war es eine Kleinigkeit, mit Hilfe dieser Photographien unsere Verfolgung zu
betreiben. Schon glaubten wir uns von den Leuten auf der Straße argwöhnisch betrachtet,
und mit hochgeschlagenen Kragen gingen, nein, hasteten wir von einem Ende
Pforzheims bis zum anderen. Zitternd und erschöpft nahten wir uns endlich zur
verabredeten Stunde dem Briefkasten des Kinderheimes. In ihm sollten wir
Bescheid vorfinden, wie es mit uns weitergehen könne; denn persönliches
Vorsprechen hatte zu unterbleiben. Da war der Zettel: „Mit dem abendlichen
Arbeiterzug nach Enzweihingen fahren!" Als wir im Zuge saßen und die Stadt
hinter uns zurücksank, atmeten wir ein ganz klein wenig auf, doch erst in
Mühlacker wurden wir wieder ruhig. Dort wartete zu unserer großen Freude und
Überraschung Pfarrer R[iehm] auf uns und steckte uns zur Beruhigung der Nerven
ein paar Zigaretten zu. Er riet uns, mit dem wieder sehr überfüllten Arbeiterzug
noch eine Station weiter zu fahren. Von dort erst konnten wir uns auf den Weg
nach Enzweihingen machen. An die Mitnahme unseres Gepäcks war bei dieser
überstürzten Flucht nicht zu denken gewesen. Durch die Nachsendung mußten wir
dem Pfarrhaus noch viel Arbeit und Mühe aufbürden, denn es mußte an einem
anderen Orte aufgegeben werden, um nicht die Aufmerksamkeit eines Bahnbeamten
oder Polizisten zu erregen. Die Gendarmerie hätte gewußt, wo wir uns
aufhielten. Um keinen Preis durfte sie erfahren, wohin wir verschwanden. Wenn
der Zwischenfall auch noch einmal gut abgegangen war, unsere Nerven und unser
Selbstbewußtsein hatten einen neuen bösen Riß bekommen. Unser alter Freund
Pfarrer M. aus Flacht hielt es im Interesse des ganzen Kreises der Beteiligten
für sicherer, sich in Ispringen über eventuelle Folgen zu erkundigen.
Merkwürdigerweise geschah nichts. Der Gendarm ist nie wieder erschienen!
[…]
In tiefer Demut
danken wir Gott für seine Hilfe, ohne die wir verloren gewesen wären. Solange
es uns vergönnt ist zu leben, werden wir ihn dafür preisen. Wir danken auch all
den vielen Menschen, die um unsretwillen Freiheit und Leben aufs Spiel setzten,
unsretwegen, die sie vorher nie gesehen noch gekannt. Siebenundzwanzig Monate
haben sie uns nicht nur beherbergt und ernährt, sondern darüber hinaus mit
allen den Mitteln des täglichen Lebens versehen, die notwendig, waren, um diese
Zeit zu überstehen.
[...]
Erst Wochen nach dem
Ende des Dritten Reiches kam es vielen, die wir trafen, zum Bewußtsein, was man
in den vergangenen zwölf Jahren uns und allen Juden angetan hatte. Langsam
dämmerte ihnen, was es bedeutete, als Jude im Dritten Reich verborgen gelebt zu
haben und gerettet worden zu sein. Viele, wenn auch nicht alle, die es konnten,
bemühten sich nach Kräften, uns vergessen zu lassen, was hinter uns lag.
Möge das Beispiel der
Barmherzigen dazu beitragen, die Menschen zu veranlassen zu helfen, wo andere
in Not sind, selbstlos und mutig, wie uns geholfen wurde. Und sie können gewiß
sein: Gottes Segen ruht auf solchen Taten."
2051 Die Gestapo stellt den Evang. Gemeindeboten für Ispringen und
Ersingen unter Vorzensur, 1937.
Gestapo Karlsruhe an Pfr. Otto Riehm in
Ispringen als Schriftleiter des Gemeindeboten, 10. August 1937; Nachlass Riehm
(in Familienbesitz)
„Der Evangelische
Gemeindebote für Ispringen und Ersingen, herausgegeben von Pfarrer Riehm,
Ispringen, Druck: Südwestdeutsche Druck und Verlagsgesellschaft m.b.H. in
Karlsruhe, wird auf Grund des § 1 der Verordnung zum Schutze von Volk und Staat
vom 28.2.33 mit sofortiger Wirkung bis auf weiteres unter Vorzensur gestellt.
Zur Durchführung der Vorzensur, die von dem Bezirksamt Pforzheim durchgeführt
wird, ist vor Druckbeginn des Gemeindeboten ein Bürstenabzug an das Bezirksamt
Pforzheim zur Durchsicht vorzulegen.
Gründe:
In Nummer 7/8 des Evangelischen
Gemeindeboten von Juli/August 1937 wird auf Seite 1 unter der Überschrift 'Zur
Einleitung' folgendes ausgeführt:
,[...
] - Wie steht's mit unserm Volk? Lasst uns nicht in Undankbarkeit vergessen,
was Gott uns Gutes getan hat in den letzten vier Jahren: Die Not der
Arbeitslosigkeit ist beseitigt, ein wohlausgerüstetes Heer schützt unsere
Grenzen, der hässliche Parteienzank, der so viel deutsches Blut gekostet hat,
ist weg, wir haben eine starke Obrigkeit, die sich einsetzt für das Wohl unseres
Volkes. Dafür wollen wir Gott danken. Aber ebenso klar muss auch das andere
ausgesprochen werden: Wenn weiterhin in unserm Volk das Antichristentum
geduldet und gefördert wird, wenn eine neue Religion eingeführt wird, bei der
man Menschen an Gottes Stelle setzt, die Natur verehrt statt den Schöpfer, in
Hochmut seine eigenen Taten und Leistungen rühmt und damit Gott die Ehre
raubt, das Wort Gottes Alten und Neuen Bundes für unrichtig erklärt oder gar
abschafft und dafür Menschenwort als Gottes Wort ausgibt, so bringt das uns
allen göttliche Strafgerichte. Die ganze Kirche Jesu ruht auf dem Bekenntnis,
dass Jesus Christus Gottes Sohn ist; aber ein Mann, der die Leitung der Kirche
zu bestimmen vorgibt, erklärt die Gottessohnschaft Jesu für eine lächerliche Sache!
Er wird nicht mehr lachen, wenn er einst vor dem Gottessohn steht! Jesus sagt:
'Tut Buße!' Aber heute spotten maßgebende Männer über die, die Buße predigen
und Buße tun; Buße sei ein ,Minderwertigkeitskomplex`. Nicht Buße, sondern
Wille und Tat! Statt dass die Jugend zur Hl. Schrift geführt wird, fordert ein
Mann wie Reichsbischof Müller bei seiner Karlsruher Rede am 22. März: 'Man
erzähle unsern Kindern in den ersten Schulklassen unsere schönen deutschen
Märchen.' Das sind alles Dinge, die nicht nur jeden gläubigen Christen im
Innersten und Heiligsten verletzen, sondern das sind Lästerungen des allmächtigen
Gottes, die er nicht ungestraft lässt. Wehe dem, der sich vergreift an Seinem
Namen, an Seinem Wort, an Seiner Gemeinde!
Die
Bibel nennt uns besondere göttliche Gerichtsstrafen, mit denen Gott die
heimsucht, die sich an Ihm vergreifen. 'Wenn ein Land an mir sündigt und dazu
mich verschmäht, so will ich meine Hand über dasselbe ausstrecken' (Hes.
14,13); und nun kommen die drei Strafen Gottes: Schwert, Hunger, Pestilenz.
Aber nicht wahr, so etwas ist doch heut` nicht mehr möglich! Wo die Menschheit
jetzt so hochkultiviert ist, macht doch niemand einen Krieg mehr, so sagte man
vor 1914! Gegenwärtig im Zeichen des Weltverkehrs ist doch eine Hungersnot oder
auch nur eine Knappheit der Lebensmittel ausgeschlossen! Und unsere ärztliche
Wissenschaft ist so weit vorgeschritten, dass man sich doch nicht vor bösen
Krankheiten mehr zu fürchten braucht! Wirklich? Haben wir Menschen dem
heiligen Gott seine Zuchtruten aus der Hand gewunden und zerbrochen? Irret euch
nicht, Gott lässt sich nicht spotten! Gott ist ja noch Richter auf Erden. Und
dass auch ganze Völker vor Gericht müssen, sagt übereinstimmend der Alte Bund
wie der Neue. Im Alten Testament steht geschrieben (es ist schon einmal erwähnt
worden): 'Der Herr wird den Erdboden richten mit Gerechtigkeit und die Völker
mit seiner Wahrheit.' Im Neuen Testament sagt Jesus: 'Wenn aber des Menschen
Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit Ihm, dann
wird Er sitzen auf dem Stuhl Seiner Herrlichkeit, und werden vor ihm alle
Völker versammelt werden.' Wie wird es dann unserm Volk ergehen? - [... ]`
Diese Schilderung der
heutigen Religionsverhältnisse entspricht nicht den Tatsachen und ist geeignet,
Beunruhigung in die christliche Bevölkerung hineinzutragen und den innerpolitischen
Frieden zu stören. Um in Zukunft derartige unberechtigte Vergleiche und damit
verbundene staatsfeindliche Angriffe gegen das nationalsozialistische Reich zu
verhindern, ist die Stellung des Gemeindeboten unter die Vorzensur
erforderlich."
2052
Vor
dem Sondergericht Mannheim, 1939 (vgl. Dok. 2010)
Auszug aus dem Tagebuch (Amtskalender
1939) von Pfr. Otto Riehm, Ispringen; Nachlass Riehm (in Familienbesitz)
„Juli, 7., Freitag
9h fährt Diemer mich
samt Schnebel nach Mannheim; erst zu Br. Jäger (A 3-3), dann ins Schloß;
Wartburg[hospiz] = Mittagessen; 3 - ¼ 7 Hauptverhandlung vor dem Sondergericht.
Urteil: Schnebel und Haas: 3 Monate, Diemer und ich: 2 Monate Gefängnis.
Karlsruhe, zu OKR Friedrich. Dann heim. Psalm 118,1: Von OKR Friedrich sehr
freundlich empfangen."
Bei dem erwähnten Bruder Jäger handelt
es sich um den Mannheimer Vikarssprecher der Bekennenden Kirche, Hans-Otto
Jaeger, der A 3,3 seine Dienstwohnung hatte. Sein Vorgesetzter war Pfarrer
Fritz Kiefer, der damalige Vorsitzende der Deutschen Christen in Baden.
[Quelle: Die Evangelische Landeskirche in Baden im Dritten
Reich, Bd. IV, S. 426-433, PV Medien Verlag Karlsruhe, 2003]
Krakauer, Ines, Berliner Jüdin, IV:
426-431 / VI: 356-358
Krakauer, Max (* 1888), Kaufmann,
Berliner Jude, IV: 426-431 / VI: 356-358
Riehm,
Gertrud geb. Meerwein (1892-1983), Frau des bad. Pfarrers Otto
Riehm, IV: 426-430 / VI: 357
Riehm, Otto Friedrich (1891-1978), bad. BK-Pfarrer - 1914
rez., 1919-33
Pfr. in Sulzfeld / KBez. Eppingen, 1933-48 Pfr. in Ispringen / KBez. Pforzheim-Land; bad. Vertrauensmann der
Pfarrergebetsbruderschaft; bei ständiger Überwachung durch die Gestapo bezog R.
1937 im Ispringer Gemeindeboten biblische Gerichtsdrohungen auf die Gegenwart,
verweigerte im Sommer 1938 den Treueid auf den Führer u. verteilte
Niemöller-Schriften; daraufhin wurde er (zus. mit Diemer, Haas u. Schnebel) im
Sommer 1939 durch das Mannheimer NS-Sondergericht wegen Vergehens gegen das
sog. Heimtückegesetz zu 2 Monaten Gefängnis verurteilt, aber kurz nach
Kriegsausbruch amnestiert; im April/Mai 1944 versteckten die Eheleute R. im
Ispringer Pfarrhaus für zwei Wochen ein jüd. Ehepaar auf der Flucht. - 1948-61
i.R. Pfr. in Hoffenheim/KBez. Sinsheim.
IV: 110, 310, 325, 329f., 426-433 / V: 157 / VI: 338, 357f.
[Quelle: Die Evangelische Landeskirche in Baden im Dritten
Reich, Bd. VI, Seite 424, 444, PV Medien Verlag Karlsruhe, 2005]