L e e h e i m e r  B l ä t t e r

 

 

Herausgeber:  Heimat und Geschichtsverein Leeheim

 

 

Die jüdischen Familien in Leeheim

 

 

Wer sich mit der Geschichte seiner Heimat befasst wird auch mit der Geschichte einzelner Personen, Familien und Gruppen konfrontiert.

 

Das bundesweite Gedenken an die jüdische Bevölkerung Deutschlands und der vom 2. Weltkrieg betroffenen Nachbarstaaten, anlässlich des 50 jährigen Jahrestages der „Reichskristallnacht“ am 9.11.1988, regt an, von den in Leeheim lebenden jüdischen Mitbürgern zu berichten.

 

In unserem Vereinsarchiv besitzen wir Ausarbeiten aus allen möglichen Bereichen, so auch eine über die jüdischen Familien in Leeheim aus der Zeit im ersten Drittel dieses Jahrhunderts.

In Leeheim wohnten 1930 vier jüdische Familien mit damals insgesamt 21 Personen. Bis 1935 verstarben 4 von ihnen. Sie sind auf dem jüdischen Friedhof in Groß-Gerau bestattet worden. Es war die Begräbnisstätte der jüdischen Gemeinden im Kreise Groß-Gerau und unmittelbar angrenzender Gebiete.

 

Die Familien waren voll im Gemeindeleben integriert. Sie waren Geschäftsleute und als solche mehr dem sogenannten Mittelstand verbunden. Sie hatten nicht weniger und nicht mehr Freunde und Feinde wie alle anderen Bürger des Dorfes. Glaubensbedingt, gegenüber den anderen Einwohnern, war lediglich ihr religiöses Verhalten. In totaler Arbeitsruhe feierten sie unter sich den Sabbat am Samstag. Sie gingen in die Synagoge und bei gutem Wetter auch auf der Straße des Dorfes spazieren. Dafür war für sie der Sonntagein normaler Arbeitstag. Trotzdem bemühten sie sich durch ihr Verhalten keinen Ärger zu erwecken.

Die Kinder besuchten selbstverständlich, so wie auch alle anderen Kinder des Dorfes, Samstags die Schule. Der Samstag war für sie Unterrichtstag, ohne Verpflichtung sich an den manuellen Tätigkeiten der Klasse zu beteiligen. Einmal in der Woche hatten sie hebräischen Unterricht, er war zusätzlich und wurde von einem Rabbiner aus Griesheim gehalten. Aber sonst waren sie, wie auch alle anderen Kinder, voll am gemeindlichen Leben beteiligt.

Die heranreifende Jugend war mit Altersgleichen ohne Unterschied verbunden und war bei Dorffesten, Vereinsbällen, Kirchweihe und dergleichen unter den Gästen zu finden.

 

Alle Juden in Leeheim waren Handelsleute. Sie waren in verschiedenen Sparten des Handels tätig. Meist sogar auf zwei oder mehreren Gebieten. Schließlich war es ihr Broterwerb dem sie sich mit großer Passion hingaben.

 

Mittelpunkt der örtlichen jüdischen Familien war die jüdische Gemeinde mit der Synagoge. Sie stand auf dem heutigen Grundstück Klappergasse 1.

Es war ein eingeschossiges Gebäude. Im unteren Bereich waren die Räumlichkeiten der Synagoge untergebracht und im Obergeschoss des Hauses befand sich eine Wohnung. Das Haus wird im Eigentum der israelitischen Gemeinde ab 1855 nachgewiesen.  Zuvor war es der bürgerlichen Gemeinde. Es wird nachgewiesen als Synagoge mit Wohnung. Lange Jahre wohnte dort die Leeheimer Familie Wolf. Anfang der 30 er Jahre fand Wilhelm Dörr mit seiner jüdischen Frau und seinen beiden Kindern dort Wohnung. Die Familie ist vor 1938 nach Amerika ausgewandert, haben jedoch die Verbindung zur alten Heimat gleich nach dem Kriege wieder aufgenommen und sind später auch wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Wohnungsnachfolger der Familie Wilhelm Dörr wurde die Familie des Ernst Ludwig Dörr, die auch das gesamte Anwesen später von der jüdischen Gemeinde kaufte. Zum Haus gehörten noch kleine Stallungen. Der Bereich der Synagoge wurde fortan zu Wohnzwecken genutzt.

 

Beim Einmarsch der amerikanischen Truppen und im Verlaufe der Kämpfe um den Brückenkopf Oppenheim, entstanden am 23. bis 25.5.1945 in Ortsmitte starke Kriegsschäden. Auch die ehemalige Synagoge brannte bis auf die Grundmauern nieder. Das Grundstück wurde von der Abwicklungsstelle für jüdisches Vermögen durch die Gemeinde Leeheim erworben.

Die Molkereigenossenschaft Groß-Gerau kaufte es später und erstellte dort eine Milchsammelstelle.

 

Nach den Einwohnerstatistiken ist zu erkennen, dass es in Leeheim auch in den vorherigen Jahrhunderten schon jüdische Familien gegeben hat. Die Zahl der Einwohner schwankte jeweils zwischen zwanzig und vierzig Personen. Die Unterschiede bis in die jüngste Berichtszeit, also um 1930, sind auf ganz normale Zu- und Abwanderungen sowie auf Geburten und Sterbefälle, und die sich hierdurch ergebenden Änderungen, zurückzuführen. Familien sind ausgestorben, andere sind zugezogen. Die 1930 verbliebenen Familien sind familiär durch Vorgenerationen mit dem Dorfe verbunden, wobei nie die Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse verleugnet wurde.

 

Das Ehepaar Moses, ihr gehörte das Grundstück Kirchstraße 13, mit den beiden Kindern Hertha  * 1916  und Erich * 1919  verkauften ihr Anwesen, das seit 1837 in jüdischem Besitz war, in den Jahren 1936/37 und wanderten nach Amerika aus. Das Grundstück übernahm damals die in der Nachbarschaft wohnende Familie Wiesenäcker die es zu Mietzwecken und als weitere Nutzfläche für ihren landwirtschaftlichen Betrieb verwerteten.

Die Familie Moses betrieb auf dem Grundstück ein Ladengeschäft mit Gemischtwaren, Getränke und dergl. sowie einen Viehhandel. Persönliche Besuche der beiden Kinder haben stattgefunden. Es wurden auch briefliche Verbindungen zu Nachbarsfamilien nach 1945 aufgenommen.

Mit Hertha Moses, eine verheiratete Bär, bestanden briefliche Verbindungen zu uns und sie hat auch Leeheim besucht.

 

Nach dem Tode des Josef Regenstein im Jahre 1931 verkaufte die Familie ihr Wohnhaus Erfelder Straße 21 im Jahre 1932 an die Familie Menger.

Frau Regenstein zog mit ihren Kindern Rosa * 1916,  Alfred * 1916,  Ludwig * 1918, sowie mit dem jüngsten Sohn aus erster Ehe ihres Mannes, Karl * 1905, in das Wohnhaus Geinsheimer Straße 7. Es gehörte dem ältesten Sohn aus der ersten Ehe, Moritz Regenstein. Er lebte im Odenwald und verkaufte das Wohnhaus, nachdem die Familie von Leeheim wegzog, 1936/37. Nach den hiesigen Kenntnissen sind die in Leeheim wohnhaft gewesenen Familienmitglieder Regenstein nach Amerika ausgewandert. Einer der Söhne hat Leeheim um 1970 besucht.

 

Die Familie Elias Kornsand in der Klappergasse 5, es war die Mutter mit drei erwachsenen Kindern, der verheirateten Tochter Elsa sowie den Söhnen Heini und Otto, wovon Heini ebenfalls verheiratet war, wanderte ebenfalls nach Amerika aus. Sie betrieben einen Handel mit Stoffen und Kurzwaren sowie mit Getreide, Kohlen und Landesprodukte.

Das Grundstück mit dem Wohnhaus und einem Lagergebäude wurde an die Eheleute Jakob und Margarete Bierbaum geb. Ganß verkauft die es als Mietwohngrundstück nutzten.

Genau wie die Synagoge erlitt auch dieses Grundstück sehr starken Kriegsschaden. Das Wohnhaus ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Drei Familien die in dem Haus wohnten verloren ihre ganze Habe.

In dem um 1970 errichteten Neubau hatte die frühere Konsumgenossenschaft ihr Ladengeschäft. Briefkontakte zu Leeheimer Familien wurden nach 1945 aufgenommen. Angehörige der Familie haben bei persönlichen Besuchen auch Verbindung zu Leeheimer aufgenommen.

 

Das Grundstück Hauptstraße 50, ein Ladengeschäft, gehörte der Familie Sternfels / Löwenthal. Das Haus war bereits 1794 in jüdischem Besitz. Sally Löwenthal, Jahrgang 1895, er war Schwerkriegsbeschädigter des ersten Weltkrieges, verstarb 1935. Seine letzte Ruhestätte hat er auf dem jüdischen Friedhof in Groß-Gerau gefunden. Seine Frau Berta geb. Sternfels, wanderte mit den beiden Kindern Kurt (1927) und Edith (1929) nach Amerika aus. Ihr Bruder Ludwig war im ersten Weltkrieg als Soldat gefallen. Ein weiterer Bruder, Samuel, wohnte in Griesheim. Ob Verbindungen zu Leeheim aufgenommen wurden oder ob solche bestehen, ist nicht bekannt. Wohl hat ein Bruder von Berta Löwenthal, Jahrgang 1903 schriftlich mit uns bis ins hohe Alter in Verbindung gestanden. Die Verbindung ist abgebrochen. Wir nehmen an Herr Sternfels ist inzwischen verstorben.. Er hat auch mit seiner Ehefrau Leeheim nach dem Kriege besucht.

Das Wohnhaus der Familie wurde 1937 an einen Leeheimer Privatmann verkauft. Von ihm erwarb es die Gemeinde, sie baute es um und brachte dort die Gemeindeverwaltung unter. Im Obergeschoss des Hauses befand sich noch eine Wohnung sowie andere Räumlichkeiten die von den örtlichen Gliederungen der NSDAP genutzt wurden. Auch dieses Haus erlitt das gleiche Schicksal wie die Synagoge und andere Häuser in Ortsmitte, es war stark geschädigt und brannte aus. Nach Kriegsende wurde das Grundstück mit einem Nachbaranwesen vereinigt. Die Gemeinde verkaufte ihren Grundstücksanteil und es entstand das heutige Wohnhaus Hauptstraße 50. Bei dem Schaden sind auch viele Unterlagen der Gemeindeverwaltung und des Gemeindearchivs zerstört worden.

 

Bis 1933 waren die genannten Judenfamilien als gleichwertige Bürger geehrt und geachtet.

Sie besaßen, genau wie alle anderen Einwohner, ihre Stärken und ihre Schwächen. Sie waren aus dem Gemeinwesen des Dorfes nicht wegzudenken.

Diese Einstellung war auch nach 1933 bei einem großen Teil der Einwohnerschaft vorhanden wurde aber leider, bedingt durch die massive Propaganda der Nationalsoziallisten und die Judenhetze, wie überall in unserem Lande, immer mehr zu Lasten der jüdischen Mitbewohner vermindert. Blieben auch offene Angriffe gegen die Judenfamilien aus so hatten sie doch unter den verstärkten Angriffen und der ganzen Härte des Hitlerregimes zu leiden.

 

Die ganze Situation im Zusammenleben hatte sich zu Ungunsten der wenigen Familien geändert. Sie wurden, teils freiwillig doch auch vielfach unter dem Druck des gesamten Parteiapparates, im persönlichem und im geschäftlichem Verkehr gemieden.

Damit war ihre Lebensgrundlage in Frage gestellt worden und das Vertrauen gegen Mitbewohner, gegen langjährige Freunde, Schulkameraden, Nachbarn, gebrochen. Freundschaften und Verbindungen, die schon zu Vaters- und Großvaterszeiten bestanden, wurden jäh unterbrochen. Das Vertrauen der jüdischen Miteinwohner war verständlicherweise entschwunden.

 

Sie verkauften ihre Habe, vielfach an befreundete Familien oder bei abendlichen Besuchen bei vertrauten Personen und wanderten, nach zum Teil kurzen Zwischenaufenthalten in Darmstadt oder Frankfurt, nach Amerika aus.

 

Es war schlimm und demütigend für diese Menschen in einer Gemeinschaft, der man in seiner bisherigen Lebenszeit heimatlich verbunden war, Schikanen und die Abstempelung zu Menschen zweiter Klasse ertragen zu müssen. Wo sie hingingen wurden sie öffentlich nicht gerne gesehen. Sie hatten die Anordnungen zur Judengesetzgebung der Hitlerregierung zu ertragen, sie durften nicht überall und nicht zu jeder Zeit einkaufen. Die Hetzkampagnen der damaligen Presse zeigt mit welchen Methoden die Obrigkeit diesen Menschen zusetzte.

 

Auch die jüdische Gemeinde in Leeheim löste sich auf. Die Synagoge wurde, wie bereits schon erwähnt, verkauft. Bereits Ende 1937 Anfang 1938 hatten die jüdischen Familien Leeheim verlassen. Zu einem Eklat am 9. November 1938 konnte es nicht mehr kommen. Damals wurde das frühere Gotteshaus schon als Wohnung genutzt. Wo die Inneneinrichtung des Gotteshauses geblieben ist oder wie sie von den Gliedern der jüdischen Gemeinde bei ihrem Wegzug verwertet wurde ist nicht bekannt.

 

Für die jüdischen Familien in Leeheim ein trauriger Weggang und ein schmerzvoller Abschied aus einem Dorfe, welches schon Generationen zuvor Heimat ihrer Vorfahren und anderer Judenfamilien war.

 

Die Dagebliebenen haben das Scheiden bestimmt in unterschiedlicher Stimmung erlebt.

Viele parteipolitisch befriedigt, dass eine Idee der NSDAP erfüllt war und die Gemeinde als ,,Judenfrei“ gemeldet werden konnte.

 

Andere in ihrer Gleichgültigkeit, ohne sich besondere Gedanken über das Schicksal dieser Familien zu machen.

Andere voll Mitgefühl als Mensch und Mitbewohner einer Gemeinschaft, doch aber schweigend in der Angst um mögliche Maßnahmen an der eigenen Person oder der eigenen Familie durch die Machthaber der damaligen Zeit.

 

Es kann nicht unerwähnt bleiben, dass geschäftliche, freundschaftliche oder sonstige Verbindungen zu jüdischen Familien anfangs nicht gerne gesehen und später sogar verboten wurden.

 

Nicht alle haben sich daran gehalten, viele haben noch geholfen, wo es möglich war oder sie haben auch Geschäftsverbindungen aufrecht erhalten.

 

,,Wer beim Juden kauft ist ein Volksverräter“ diesen Slogan musste ein Leeheimer ununterbrochen hören als er mit seinem Kuhfuhrwerk von Goddelau kommend in Leeheims Straßen einfuhr. Er hatte einen Kessel im jüdischen Geschäft Bruchfeld in Goddelau gekauft und wollte ihn heimbringen. Ein Goddelauer machte sich auf den Weg um diese ,,üble Tat" anzuprangern.

 

Oder ,,Judenfreund"  mit weißer Ölfarbe auf ein Hoftor in der Hauptstraße geschrieben war lange Zeit sichtbar. Es sollte den Hauseigentümer anprangern, weil er noch mit Juden Geschäfte machte.

 

Es wurde auch nicht gerne gesehen, wenn sich Judenfamilien im Nachbarhaus ihre Milch holten oder wenn jemand Restteile von Waren kaufte.

 

Maßgebend allerdings war, wer hat solche ,,Vergehen" festgestellt und welche Möglichkeiten hatte er den Freundschafts- oder Geschäftspartner der jüdischen Familie anzuprangern.

 

Viele habe solche Anprangerungen ignoriert, sie wurden im Keime erstickt. Doch Andere mussten Drohungen oder Nachteile hinnehmen und ertragen.

 

Mit dem Ende des Krieges und der Normalisierung der Verhältnisse kamen einzelne Verbindungen von Amerika zu Deutschland, oder umgekehrt, auf doch eine tiefere

Freundschaft entstand unseres Wissens nicht.

 

Wen wundert dies, jeder der die Zeit erlebte und sich ehrlich mit dem Erlebten auseinander setzte, sowie die Erkenntnisse der Nachkriegszeit mit all ihren Offenbarungen über die unmenschlichen Gräueltaten der Nationalsozialisten an jüdischen Familien, einbezieht, muss ein Schuldgefühl verspüren und sich für all das, was man diesen jüdischen Menschen angetan hat, schämen.

 

In welcher Weise die Angehörigen der Leeheimer Judenfamilien in der neuen Heimat, in Amerika, eine für sie zufriedene Bleibe und Existenz gefunden haben ist im näheren nicht bekannt.

Gott sei Dank sind sie hier bei uns dem sich immer mehr ausweitenden Terror und der totalen Judenvernichtung entgangen.

 

Durch Veröffentlichungen aus dem Bundeszentralarchiv wissen wir, dass auch gebürtige Leeheimer Juden, sie waren 1930 nicht mehr in der Gemeinde wohnhaft, deportiert wurden und im Deportationsziel verstorben oder verschollen sind.

 

es sind dies:

Nauheim Lazarus                                * 25.01.1870                                +                                03.11.1942  in Theresienstadt

Spies geb. Sternfels Elisabeth                                * 13.05.1888                                +                                21.03.1942  Freitod

Sternfels Samuel                                * 26.10.1891                                          verschollen in Riga

Regenstein Moritz                                * 22.01.1898                                          verschollen in Auschwitz

 

Eine traurige Bilanz.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fundstelle:  Archiv Heimat und Geschichtsverein

Stand: November 1988