Baisingen Friedhof 154.jpg (62551 Byte)  Segnende Hände der Kohanim auf einem Grabstein in Baisingen


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Endingen und Lengnau (Kanton Aargau, Schweiz)
Allgemeine Texte zur jüdischen Geschichte der beiden Orten im Surbtal

Die nachstehend wiedergegebenen Texte mit Beiträgen zur jüdischen Geschichte in Endingen wurden in jüdischen Periodika des 19. / 20. Jahrhunderts gefunden. 
Bei Gelegenheit werden weitere Texte eingestellt.       

   Endingen Synagoge 103.jpg (62000 Byte) Lengnau Synagoge 100.jpg (38321 Byte)   
  Endingen  Lengnau   

      
      
Übersicht:

"Die Juden in der Schweiz" (Beitrag von 1809 - nach einem Bericht von 1786)   
Über die Juden in der Schweiz (aus einem Bericht von 1847)  
Über die jüdischen Gemeinden Endingen und Lengnau (Bericht von 1905)  
Über die jüdischen Gemeinden im Surbtal (Bericht von 1907)    
Über die jüdischen Gemeinden im Surbtal - Beitrag 1 über Endingen (Bericht von Selig Schachnowitz 1924) 
Über die jüdischen Gemeinden im Surbtal - Beitrag 2 über Lengnau (Bericht von Selig Schachnowitz 1925) 

    
    
"Die Juden in der Schweiz" (Beitrag von 1809)  
Anmerkung: Der nachfolgende Beitrag ist im Wesentlichen eine Zusammenfassung eines Abschnittes aus dem "Helvetischen Kalender fürs Jahr 1786"; dieser Abschnitt wird zitiert in dem Buch "Historisches Portefeuille. Zur Kenntnis der gegenwärtigen und vergangenen Zeit". Erstes Stück. Januar 1786. S. 451-469  "Zustand der Juden in der Schweiz"; dieses Buch "Historisches Portefeuille" ist einzusehen über Google Books). Im Artikel in der Zeitschrift "Sulamith" sind wenige Aktualisierungen vorgenommen worden; gekürzt wurden auch Passagen, die eine antijüdische Tendenz zeigen.    

Artikel in der Zeitschrift "Sulamith" Jahrgang 1809 S. 301: "Die Juden in der Schweiz. Im Schoß eines der fruchtbarsten Täler von Oberbaden in der Schweiz, sind in der Entfernung einer halben Meile voneinander die zwei einzigen Synagogen, die der Judenschaft in der ganzen Schweiz vergönnt sind (Anmerkung: die eine wurde im Jahre 1755, und die andere 1764 aufgebaut; beide findet man abgebildet in Ulrichs Juden-Chronik. [Basel 1768. 4.). Sie sind von unbeträchtlicher Größe und sehr einfach, doch ist die Endingen'sche mit viel Geschmack gebaut). In diesem äußersten Winkel Helvetiens hat sie endlich nach tausend Gefahren und Verfolgungen seit drei Jahrhunderten einen unsichern Zufluchtsort gefunden. Hier liegen zwischen Ackerland, Wiesen und Waldungen, von denen die ersteren die Tiefe, die letzteren die kleinen Hügel und den Rücken der einschließenden Anhöhen bekleiden, zwei an- 
[S. 302] sehnliche Dörfer Lengnau und Endingen (Anmerkung: in den beiden Ämtern Ehrendingen und Siggenthal), wo römisch-katholische, reformierte und jüdische Glaubensgenossen, jede Gott nach ihrer Art dienen. Zwischen beiden liegt der Gottesacker (der in der Schweiz Friedhof heißt) der Juden, mit senkrecht stehenden Leichensteinen und hebräischen Grabinschriften (Anmerkung: Helvetischer Kalender fürs Jahr 1788. [Zürich. 16]. Seite 45). 
Hier wohnen etwa 112 Judenfamilien beisammen. Zwar erhielten nur 108 im Jahre 1776 den Schutz der Kantone, aber die Familie des Rabbiners, des Schulmeisters und dergleichen waren nicht mit dazu gerechnet. Im Jahr 1634 wohnten nur 20 Familien in der Grafschaft; 1702 schon 35; bis zum Jahre 1744 vermehrten sie sich bis auf mehr als 70; zwölf Jahre später waren ihrer schon 86; im Jahre 1760 belief sich ihre Anzahl über 90 Familien und 1776 baten 108 um Schutz bei den regierenden Kantonen. Dabei waren der Rabbiner, Vorsänger, Schulmeister mit Weibern und Kindern, sowie die Mägde (die nur geduldet, nicht aber beschützt sind) nicht mitberechnet. Diese zusammen machten allein gegen 40 Köpfe aus (Anmerkung: In dem vorgenannten Jahre befanden sich in Endingen 70 Männer, 70 Weiber, 115 Söhne, 74 Töchter; in Lengnau 38 Männer, ebenso viele Weiber, 91 Söhne, 57 Töchter, und fremde in öffentlichen oder Privatdiensten stehende Personen 44; sodass ihre ganze Anzahl sich auf 597 belief. Ihre ansehnliche Vermehrung veranlasste seitdem sorgsame Gedanken; es ward sogar auf die Bahn gebracht, derselben durch Gesetze Schranken zu setzen. Allein die natürlichen Rechte der Menschheit schienen den Kantons zu heilig, als dass sie anders als durch Verhütung der Aufnahme aller fremden Juden, die Vermehrung der unglücklichen Nation hindern wollten). Sie     
[S. 303} stehen alle unter dem einzigen Schutz der obersten Beherrscher der Grafschaft, der Kantone Zürich, Bern und Glarus. Ihre Rechte sind ihnen teils mit den übrigen Untertanen gemeinschaftlich zuerkannt, teils in den Schirmbriefen besonders ausgedrückt. Keine Gerichtsherren, die sonst die minderen Herrschaftsrechte besitzen, dürfen einige Gewalt über sie ausüben. Kein Eid, kein Gelübde bindet sie an die Pflichten gegen ihr Vaterland. Kleinere politische und alle religiöse Versehen werden von selbsterwählten Vorgesetzen gerichtet. Haben sie aber Beziehung auf ihre Pflichten als Landesbewohner, so werden sie nach einem eigenen gedruckten Mandat gerichtet. Ihre übrigen Privilegien und Pflichten enthalten die Schutzbriefe, die alle 16 Jahre erneuert werden müssen. 
Schon zweimal suchte sich die Grafschaft der Juden unter allerlei Vorgeben - worunter das hauptsächlichste ihr heilloser Wucher war - zu entledigen. Im Jahr 1678 traten die christlichen Einwohner in eine Art vom Komplott zusammen, um sie gewaltsam aus dem Lande zu verjagen; ein eigener, nachdrücklicher Schirmbrief der Kantone aber verschaffte ihnen Sicherheit. Im Jahre 1756 bat die Grafschaft abermals durch Abgeordnete um die Entfernung der Juden, aber wiederum vergebens (Anmerkung: Ulrich am angeführten Orte S. 317). Seitdem machen edeldenkende Magistrate den Versuch, sie  
[S. 304] unter billigen Bedingungen zu Landbauern und Handwerkern umzuschaffen. Mit dem höheren Wohlstande des Landes wollten sie die Judenschaft selbst zum sichern Besitz von Gütern und zum edleren Genuss des Lebens verhelfen. 'Aber umsonst - heißt es im helvetischen Kalender Seite 49 -; sie fanden bei den Juden selbst den größten Widerstand, welche Fanatismus, Gewohnheit und Neigung gleich stark an die bisherige Lebensart fesselten. Handel und Aktivschulden sind ihr einziger Unterhalt, und zwar allein der Kleinhandel und solche Aktivschulden, die keine Versicherungen auf liegende Gründe und Schuldbriefe haben dürfen.'  
Ihre Lage könnte aber für den Kleinhandel durchaus nicht vorteilhafter sein. Im Kreise vieler kleineren und größeren Städte und Flecken, an den Grenzen der Schweiz, in kleiner Entfernung von ihren Glaubens- und Handelsgenossen in Schwaben und Vorderösterreich, nur eine kleine Meile entfernt von Zurzach - wo die berühmteste Messe in der Schweiz gehalten wird: lässt die Einsamkeit, in der sie leben, und die Unterwerfung unter mehrere Kantons, von denen Bern und Glarus sehr entfernt sind, ihrem Handelsgeiste freien Spielraum. Eigentlich sind nur die Grafschaften Baden und die unteren freien Ämter, die unter gleicher Oberherrschaft stehen, der ihrem Handel angewiesene Raum. Bei diesem engen Wirkungskreise aber müsste so viele hundert Menschen Hungers sterben; sie erstrecken also ihren Handel hinein ins Schwarzenbergische, in Thurgau, Fricktal, in das Gebiet von Bern, in die Grafschaft Hauenstein (statt Gauenstein), selbst in das unmittelbare Gebiet  
[S. 305] der Stadt Zürich. All ihr Handel lässt sich bequem in vier Arten teilen; denn entweder sie leihen Geld auf Pfänder, oder sie treiben Mobilien-, Güter- oder Viehhandel. Bei alledem aber sind die meisten von ihnen sehr arm, doch fallen diese Armen dem Staate nicht sichtbar zur Last; denn dreimalige wöchentliche Almosen, Dienste bei den Reicheren, Aufträge und Kleinhandel im allergeringsten Verstande schleppen auch die ärmsten Familien mit durch.  
Ihre Abgaben reichen lange nicht an diejenigen, welche der auch nur mittelmäßige Feldbauer an Zehnten, Grundzinsen, Wachen, Fronen, Armensteuern entrichten muss, nicht zu gedenken, dass der Schweizer seinem Vaterlande den Schutz mit Leib und Leben leisten muss. Für all diese und so viele andere Titel, die durch die ganze Schweiz verschieden sind, beläuft sich die Abgabe des Juden ungefähr auf Folgendes: 1) Für den auf 16 Jahre gestellten Schutzbrief der Kantone 400 Floren, jährlich 25 Floren; 2) den Oberbeamten für Schutz und Schirm jährlich 1000 Floren, von jedem Hause etwa 10 Floren (Anmerkung: Man findet häufig Beispiele, dass den armen Familien dieses Schutzgeld erlassen worden ist). 3) Harschiergeld der Kanzlei Baden 50 Fl.; 4) den Gemeinden für Anteil an Brunnen und anderen Gemeingütern 45 Fl. 5) Bei Schlachtung eines Jeden Hauptviehes dem visitierenden Vorgesetzen 2 Pfund Fleisch. 6) Zoll in der Zurzacher Messe von dem Handelsmann 19 Batzen, von dem Kleinkrämer 13, und von einem Knecht oder Jungen 7 Batzen; 7) bei jeder gerichtlichen Handlung von 100 Gulden, 5 Schillinge; 8) von allem, was sie im 
[S. 306] Lande kaufen und verkaufen 1 Prozent Handelsakzise. Alles dies macht eine Summe, die lange nicht mit den Steuern derer zu vergleichen ist, die im Schweiße ihres Angesichts ihr Feld bauen. Dabei lebt der Jude sicher. Selten sind sie zu Hause, sondern teils auf allen Märkten weit und breit zerstreut, teils ziehen sie in den vorgenannten Gegenden mit Vieh und tausend Kleinigkeiten herum. Was man an ihnen sehr rühmt, ist, dass sie viel Almosen geben, sich die Steuern abtragen helfen und die Verdienstlosen ernähren; die sie ehrliche Treuer fest bewahren und zuverlässig in ihren Zusagen sind; dass sie den Spott und die Verhöhnung unvernünftiger Christen schweigend dulden und gleichgültig gegen den erklärtesten Hass der Dorfgenossen sind; dass sie einfach in ihrer Lebensart, und aller Prahlerei und Prachtliebe abgeneigt sind; dass sie pünktlich und gewissenhaft in Erfüllung ihrer Religionsgebräuche sind, und ihren Kindern eine sorgfältige, religiöse Erziehung geben. Die Fehler, die man ihnen zur Last legt, fließen größtenteils aus ihrer bürgerlichen und religiösen Verfassung. C.W.Sp."  

  
Über die Juden in der Schweiz (aus einem Bericht von 1847) 

Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 18. Januar 1847: "Aus dem Aargau, 20. Dezember (1847). Die Schweiz, das Land der großartigen Naturmerkwürdigkeiten, mit seinen majestätischen Alpen, seinen herrlichen Gauen und Tälern, das Land, wo so vielen europäischen Länder der Segnungen ohne Zahl entquellen, dieses Land hat frühe schon Israeliten gelockt, dass sie daselbst ihren Wohnsitz aufgeschlagen haben. Zu Vespasian's Zeiten schon sollen Juden nach Helvetien gewandert sein, was aber nicht mit Gewissheit behauptet werden kann. Die Urkunden, welche die Existenz der Juden in der Schweiz beweisen, gehen bis ins dreizehnte Jahrhundert. Es wohnten nämlich Juden zu Zürich, Bern, Basel, Luzern, Schaffhausen, Appenzell, St. Gallen, Winterthur, Biel, Yverdon und Genf, zu Bremgarten, Mellingen, Baden, in Graubünden und im Thurgau - bis die Katastrophe des Jahres 1349 über sie hereinbrach und aus dem Lande vertrieb, was nicht dem Martertode preisgegeben wurde. Dem Schweizerstädtlein Zofingen im Aargau gebührt die schreckliche Ehre, den Schwindel der Brunnenvergiftung aufs Tapet gebracht zu haben. - Heutzutage ist die Zahl der Juden in der Schweiz sehr gering und sie leben daselbst zerstreut in den verschiedensten Gegenden. Es wohnen Juden in Basel, Bern, Zürich, St. Gallen, Genf, Lausanne Vivis, Yverdon, St. Imier, Porrentruy; die meisten aber wohnen zu Endingen und Lengnau im Aargau. Und weil die Schweiz in Beziehung der Lage ihrer verschiedenen Gegenden, des Charakters und der Sitten ihrer verschiedenen Bewohner, ein so vielfarbiges Gebilde der verschiedensten Variationen von Verfassungen und Gesetzen, darum bietet auch die bürgerliche Stellung der Juden in diesem Lande  
so verschiedenartige Verhältnisse dar. Während in Genf und in den französisch redenden Kantonen der Jude wie jeder andere fremde Bürger - die hier wohnenden Juden sind französische Bürger - angesehen und behandelt wird und man weit davon entfernt ist, ihn seines religiösen Bekenntnisses willen zurückzusetzen, darf er in Graubünden und Luzern nicht einmal die Märkte besuchen mit seiner Ware. In den Urkantonen, Uri, Schwyz, Unterwalden, sowie in Zug ist ihm Letzteres zwar gestattet; er dürfte es sich aber nicht einfallen lassen, sich dort zu etablieren. Die regenerierten Kantone Zürich, Bern, Aargau, Glarus und Tessin führen allmählich eine tolerantere und liberalere Behandlung der Juden ein und in den drei Ersteren wurde seit neuerer Zeit die freie Niederlassung der Juden zum Gesetz.   
In Beziehung der inneren Entwicklung der israelitischen Verhältnisse lässt sich bloß von Endingen und Lengnau Erhebliches berichten. Diese beiden Gemeinden im Aargau zählen zusammen ungefähr 2.000 jüdische Seelen. Sie sind die einzigen in der Schweiz, deren Verhältnisse einigermaßen durch staatliche Gesetze geordnet sind und wo die Regierung sich bei der Wahl der Gemeindebeamten und Rabbinen beteiligt, die überhaupt in allen Beziehungen mit ihrem Gemeinwesen unter Kontrolle des Staates stehen, deren Schulen den christlichen gleichgestellt und die sehr bedeutende Staatsbeiträge zur Besoldung der Lehrer beziehen. Diese beiden Gemeinden erfreuen sich mancher zweckmäßigen und wohltätigen Institute. Endingen hat einen Verein zu Unterstützung von Handwerkern, einen solchen zur Besorgung der Krankenpflege, einen Schiedsgerichtsverein, eine sehr bedeutende Ersparnis-Kasse, einen nicht unbedeutenden Schulfonds und einen Armenfonds. Diese Gemeinde könnte bei ihren vielen Instituten und den vielen intelligenten Kräften, die sie besitzt, viel Gutes und Großes leisten, wenn diese Kräfte zu einem harmonischen Ganzen vereinigt würden durch einen imponierenden, vom echten Geiste beseelten und unermüdlicher Willenstätigkeit ausgerüsteten Mann. Die Förderung des Guten ist daselbst umso leichter, als die Gemeinde sehr lenksam ist. Verdienen auch Vorsteher und Leiter der Gemeinde durch ihren guten Willen und durch die Opfer, die sie dem Gemeinwesen darbringen, den Dank der Gemeinde in hohem Maße, so muss andererseits bedauert werden, dass unter denselben nicht Einer sich befindet, 
dem es seine Stellung erlaubte, dem Gemeinwohl sich also hinzugeben und demselben also vorzustehen, wie die Schwierigkeit und Wichtigkeit der Sache es erheischt. Daher rührt es, dass in dem wirklich zweckmäßig organisierten Gemeindehaushalte, der doch von fähigen und mit Talent begabten Personalitäten geleitet wird, jene Regsamkeit und jene Ordnung fehlt, die in jeden Haushalt Leben, Fortschritt und Gedeihen bringen. - Lengnau hat nicht so viel gemeinnützige Vereine wie Endingen. Dafür aber herrscht im Gemeindewesen mehr Ordnung, mehr Harmonie und Aufschwung. Hier ward mit bedeutenden Opfern vor drei Jahren ein prachtvolles Schulhaus gebaut und jetzt wird bald eine herrliche Synagoge eingeweiht werden, deren Baukosten mindestens 25.000 Fl. betragen. Die Einmütigkeit und der Enthusiasmus, mit welcher diese Werke beraten, beschlossen und vollführt wurden, verdienen öffentliche Anerkennung."   
 
Artikel in der "Allgemeinen Zeitung des Judentums" vom 25. Januar 1847, 20. Dezember. [Schluss]. Die Verhältnisse der Synagoge sind in beiden Gemeinden nichts weniger als geordnet. Zwar haben beide Gemeinden eine jede für sich ein Synagogenreglement entworfen, keins von beiden aber ahnt nur im Geringsten die Forderungen, die an einen Gottesdienst gestellt werden können und müssen, so derselbe Erhebung und Erbauung verschaffen soll. Auch wird keins von beiden streng vollzogen. - Das Institut der Predigt hat hier noch keinen mächtigen Aufschwung erhalten, und die hohe Regierung trägt eine gewisse Scheu vor jedem ernstlichen Einschreiten in religiöser Beziehung, weil sie fürchtet, es möchte ein solches Einschreiten als ein Über- oder Eingriff in die Religion angesehen werden. - Beide Gemeinden bringen große Opfer für ihr Armenwesen; allein solange nicht Anstalten getroffen werden, die die Quelle der Armut verstopfen, nämlich dadurch, dass die Arbeitslosigkeit von der Wurzel ausgerottet wird, solange sind diese Opfer nichts als ein Schöpfen in das Fass der Danaiden. Zu wünschen wäre es, dass Herr Vorsteher L. H. Guggenheim, der schon zu wiederholten Malen bei Gemeindeversammlungen zu Endingen Vorschläge gegeben, deren Realisierung dem Übel der Armut radikal abhelfen würde, wir sagen, es wäre zu wünschen, dass Herr Vorsteher solchen Anträgen mehr Nachdruck geben und seine ganze Energie aufbieten möchte, und solche Anstalten ins Leben rufen, die der Armut auf eine gründliche Weise steuern würden. - Eine hoffnungsvolle Jugend dürfte unseren beiden Gemeinden eine schöne Zukunft versprechen, wenn nicht teils die leidigen ökonomisch schlimmen Verhältnisse mancher Familie, teils der Mangel an gehöriger Einsicht der Eltern, die Kinder gar oft mit hinein in den Strudel der Alltags-, wir wollen nicht sagen des Schacherlebens ziehen würde. Zur Freude des Freundes der Aufklärung geht dennoch mancher schöne Keim auf und wächst heran zum herrlichen Bäumchen, das schöne Blüten und Früchte hoffen lässt...". 
Der Abschnitt geht im Folgenden auf die anderen Orte in der Schweiz ein, in denen damals jüdische Personen / Familien lebten.  

         
Über die jüdischen Gemeinden Endingen und Lengnau (Bericht von 1905)  

Artikel im "Frankfurter Israelitischen Familienblatt" vom 30. Juni 1905: "Zürich. In der konservativen 'Freitagszeitung' lässt sich Redakteur Zurlinden anlässlich der Beschreibung eines Ausfluges über die beiden jüdischen Gemeinden Endingen und Lengnau wie folgt vernehmen:  'Bei der Volkszählung von 1900 waren in Ober-Endingen noch 263 Juden, neben 545 Katholiken und 313 Protestanten, in Lengnau 110 Juden, 988 Katholiken und 21 Protestanten. Von der früheren Zeit zeugt in Ober-Endingen wie in Lengnau namentlich noch die große Synagoge: einen Rabbiner gibt es aber weder hier noch dort; nach Lengnau kommt alljährlich etwa zweimal Herr Rabbiner Dr. Littmann von Zürich, und Ober-Endingen ist (war!) dem Rabbinat Baden zugeteilt: in der Regel versieht ein Vorsänger die gottesdienstlichen Funktionen. Hier und da dient die Synagoge auch anderen Zwecken; so wurde vor 14 Tagen in der Synagoge von Lengnau das Bezirkssängerfest abgehalten und um die gleiche Zeit ungefähr sprachen in der Synagoge von Ober-Endingen vor einer großen Volksversammlung einige Aargauer Berühmtheiten, die Nationalräte Zschokke, Baldinger und Eggspühler, über das Surbtalbahnprojekt. 
Typische Merkmale einer jüdischen Kolonie fallen dem oberflächlichen Beobachter kaum irgendwie auf; die jüdischen Haushaltungen, Wohnungen und Geschäfte unterscheiden sich, von den Namen etwa abgesehen, durch nichts von den christlichen, die jüdischen Kinder, die in der Straße spielen, sind gar nicht immer als solche gleich zu erkennen, und, wenn nicht hier und da eine würdige jüdische Matrone in schwarzem Häubchen vor der Haustüre sitzt oder ein paar Judenfrauen mit großen Gebetbüchern vom Judenfriedhof zurückkehren würden, so könnte man heute durch Endingen und Lengnau wandern, ohne zu merken, dass hier einmal die gesamte Judenschaft der Schweiz und noch länger diejenige das Kantons Aargau sesshaft war.
Das beste aber ist, dass zwischen Christen und Juden nunmehr das freundnachbarlichste Verhältnis herrscht; ich habe darauf bei meinem kurzen Verweilen besonders geachtet, manches beobachtet und bei Juden und Christen nachgefragt; übereinstimmend wurde von beiden Seiten bezeugt und durch den Augenschein bestätigt, dass sich Juden und Christen aufs beste vertragen und einander nichts in den Weg legen. Das ist der Segen der Emanzipation."     


Über die jüdischen Gemeinden im Surbtal (Bericht von 1907)  
Anmerkung: geschildert wird insbesondere ein  Besuch des Friedhofes und des Altersasyls mit dem dortigen Betsaal   

Endingen Israelit 01081907a.jpg (315171 Byte)Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 1. August 1907: "An der Surb. Durch die erste jüdische Niederlassung der Schweiz (Anmerkung: Das erste Asylrecht fanden die Juden gegen Anfang des 17. Jahrhunderts in den Dörfern des Aargauischen Surbtales Endingen und Lengnau, die auch bis zur Emanzipation die einzigen jüdischen Gemeinden der Schweiz waren).   
Wie schlaftrunken schaut der Hörnli auf die kahlen grauen Dächer des Tales hinunter. Die ersten Sonnenstrahlen lassen seinen waldigen Gipfel im hellen Grün erscheinen und werfen auch einige silberne Streifen auf die noch grauen Rebenreihen des Abhanges. Höhe grüne Pappeln erheben sich stolz und überragen hoch die Dächer, ohne jedoch den Gipfel zu erreichen. Auch in der Natur gibt es Glanz und Armut, Überfluss und Lücken, Abstände und Abstufungen...
Unter schlummert es noch im grauen Neben, doch hoch oben ist die Sonne bereits erwacht, leuchtet der Wald, bewegen die Bäume andächtig ihre Kronen, zwitschern die Vögelchen ihr Morgengebet...
Hinauf! hinauf! wo es rauscht und webt und so geheimnisvoll flüstert. Hinaus zum Frühgottesdienst im herrlichen Tempel, wo die Natur in tausend Stimmen und Melodien die Herrlichkeit des Schöpfers preist. 
Nun liegen all die weiß und grau getünchten Giebelhäuschen unter mir. Auch die stolzen schlanken Pappeln sind weit überholt. Zwischen den Rebstöcken schlängelt sich der schmale Weg, immer weiter, immer aufwärts bis zum grünen waldigen Saume, von dem wie eine leuchtende Perlenschnur die frische Quelle herabrieselt. Unwillkürlich wendet man das Gesicht, um ihren Lauf zu verfolgen. Und da liegt das ganze Tal, über dem jetzt die Sonne aufgeht, ein Haufen schwarzer, grauer, grüner Punkte, umspült und umrauscht von dem silberklaren Wasser der Surb. 
'Das Jammertal!' bemerkt mein Begleiter, ein Städter, verächtlich und überlegen. 
'O nein', entgegnete ich, 'Jammer ist dort, wo man auf Zinnen und Türme hinabsieht. Jammer wohnt hinter Palästen und hohen Mauern. Jammer steigt mit den rauchenden Schornsteinen der Fabriken zum Himmel hinauf. Jammer und Elend wohnen in jenen Mietskasernen vor Licht und Luft verborgen. Hier in den kleinen Häuschen mit den winzigen grünen Läden, hier in der Luft, die von Mist und frischem Heu geschwängert ist, hier ist jener Jammer unbekannt. Kein glänzendes, rauschendes Glück, aber auch kein Elend. Es sind lauter gesunde Menschenkinder, die sich im Schoße der Mutter Natur wohl und sicher fühlen...'  
Und unten rauscht der Bach so anmutig und zutraulich, so frisch und heimelig. Nichts, was ihn trübt, seinen ruhigen Lauf hemmt. Noch hat die menschliche Hand ihm nicht weg getan, noch versuchen es menschliche Kunst und Anmaßung nicht, ihm Kraft zu entziehen. Reih und selbstbewusst ziehen seine Wochen, in denen die Forellen so sicher und munter auf und untertauchen. Weiß er es doch, dass er es ist, der der ganzen Talschaft Namen und Charakter gibt. 
So rauschte die Surb auch damals vor vier Jahrhunderten, als kleine Scharen Verfolgter über den Rhein kamen, in dem sie ihre Füße, die im Blute ihrer Väter und Brüder gewatet, wuschen und nun weiter gegen die Grafschaft Baden zogen. Drüben auf dem Lohnfhügel machten sie Halt und lauschten. Waren es Schritte der Verfolger? Nein, das ruhige Flüstern eines Baches, der gar zutraulich lächelnd und einladend winkte: 'Hier, müder Wanderer, lege dein Haupt nieder und ruhe aus. Hier in meinem Tal lebt ein frischer, freier Stamm, der den Wert der Menschenrecht, die er sich selber erkämpft, kennt und sie keinem anderen vorenthalten mag.'  
Und nun stiegen sie den Berg zur Rechten und Linken hinunter und bevölkerten die beiden Dörfer des freundlichen Surbtales.    
Oft trübte sich auch der glatte Spiegel des Flusses. Sein freundliches Rauschen verwandelte sich in leises Murren, das bald immer lauter und drohender wurde... Ängstlich horchte wieder der Wanderer von seiner ersten Ruhe auf... Doch fanden sich immer unter den Lenkern des Staatsschiffes Männer, die es verstanden, Öl auf die brausenden Wogen zu gießen... 
Die Leidenschaften waren weit weggeschwemmt; der wahre Charakter mit seinen natürlichen Merkmalen: Ruhe und Gerechtigkeit, drang durch...
Und dann rauscht der Bach feierlich und andächtig, die Juden brachten die Heiligtümer, die irdischen Überreste ihrer Väter, von der kleinen Rheininsel über die Surb hinüber. So wie Moses einst die Gebeine Josephs mit sich nahm, um sie der lieben Erde, wo sein Volk Ruhe und Frieden fand, zu übergeben.  
Dort ist es der geweihte Hügel (sc. Friedhof), der umgeben von struppigen Stauden und Hecken in den nahezu zwei Jahrhunderten sich zu einer großen Stadt der Gräber entwickelt hat. Mit Wehmut und Stolz erfüllt uns der Anblick. Wie da alles grünt, knospet und treibt. 'Und sie sprossen hervor aus dieser Stadt wie das Gras des Feldes', ...
Hier noch ein ziemlich frisches Grab, ganz bedeckt von schlanken Grashalmen und gelben Heublumen. Ich kenne die Schrift, die ich selber gezeichnet, kannte den Mann, den ich mit zu Grabe getragen. Vor Jahresfrist hatte
Endingen Israelit 01081907b.jpg (339899 Byte)dieses frische milde Grün ihn mit Hoffung und Freude erfüllt...
Dort ein winziges Hügelchen - - - Doch, wende dein Auge ab, dass dein Vaterherz nicht bricht. Dieses Häufchen Erde, wie es im Sonnenschein grün, rot und blau schimmert, es ist ein Kindeslächeln, so hell und so rein - Engelgesang. Es lachte noch mit offenem Mündchen und erstauntem Gesichtchen in seinem winzigen Särglein, es lacht nun im Sonnenglanz durch die bunten, roten und blauen Blümelein, die von goldigen Käferchen umsummt und abgeküsst werden. Auf dem kleinen, senkrechten Gedenkbrettchen steht eine Amsel, schlägt mit den Flügeln und singt, so hold, so süß, so weich und traurig. Ich möchte näher gehen und horchen, das liebe Geschöpf kosend ans Herz drücken... Doch, so zutraulich und herzlich ich mich auch nähere, die Amsel schrickt zurück, flattert auf und fliegt im hohen Bogen davon - - -
Im Alten und Historischen liegt immer etwas Beruhigendes und Versöhnendes. Da hat die Zeit alles geheilt, alles vernarbt, alles mit einer Gloria des Friedens umgeben. Hier rechts abseits unter diesen eben geworbenen Gräbern, verwitterten unleserlichen Steinen, da ist kein Leid mehr begraben. Da ruht die große Lehrmeisterin, die Geschichte der Vergangenheit, die nicht mit Trauer und Wehmut, sondern mit großer Achtung und Bewunderung uns erfüllt.  
Da liegen sie, die Generationen, aneinander gebettet. Wind und Wetter haben manches steinerne Denkmal der Liebe gebrochen, manchen poetischen Erguss, manche Liebeshymne, auch manchen historischen Bericht, von denen die Gräber erzählen, verwischt. Wehmutsvoll betrachte ich die glänzenden pyramidalen Marmorsäulen drüben auf der neuen Seite. Die Zeit wird einmal auch die Pracht rauben, aber auch das Leid wird sich in einen historischen Frieden auflösen. Alles fließt - - - 
Dort die Rabbinergruppe. 'Ein Gaon und ein Philanthrop' entziffere ich mit Mühe, 'Rafael. Sohn des Abraham gestorben am 254. Ijar 573' (1809). 'Heute' - klagt ein nebenanstehender Stein - 'verdüsterte sich unser Himmel und hüllte sich in Trauerwolken, um zu bekunden, dass ein Großer und Fürst im Reiche der Tora gefallen ist. Ein Lenker Israels, ein Löwe an Größe und Stärke des Geistes, Landrabbiner Abraham Isak, Sohn des Jakob Samuel etc. Starb 24. Ellul 578'. 
Bei einem Elchanan bleibt mein Blick wie gefesselt haften. Er war kein Rabbiner, aber Pietät und Dankbarkeit suchten für ihn den schönsten Ehrenplatz heraus. 'Er hat' - erzählen die winzigen verwischten Buchstaben - 'mit Todesverachtung unter eigener Lebensgefahr großes Unglück von seinen Glaubensgenossen in beiden Gemeinden abgewendet.'  
Wann? wie wo? Das Grab ist verschwiegen und die Schrift ist kurz und kaum leserlich. Unsere Ahnen liebten es nicht von sich viel reden zu machen. Die Geschichte ihrer Leiden ausführlich zu beschreiben, dafür würden auch ihre Kraft und Zeit nicht ausgereicht haben.  
Eins dieser Rabbinergräber hat die Natur mit einem blühenden Denkmal versehen. ein Baum, ein blühender üppiger Apfelbaum hat sich aus dem Grabe herausgewachsen, Stein und Inschrift ersetzend. Ein blühender Baum, der in Gräbern wurzelt, ist der Baum des Judentums...
Und er blühte und gedieh, der Baum, der aus Gräbern Kraft und Wachstum schöpft, auch hier in unserem Tale... 
Die Kinder sind hinaus, haben Meere durchfahren. Länder durchstreift. Doch war etwas von den guten Keimen, die in dieser stillen Erde ruhen, in ihren Herzen geblieben, ging auf und zeitigte manche herrliche Frucht... Dort winkt uns von der Ferne das rote Dach des Altersasyls . Wie es im Sonnenschein glänzt und schimmert. Wie Flammenschrift leuchtet uns entgegen: 'Und die jüdische Treue, sie ist doch kein leerer Wahn'.  
Eine breite steinerne Treppe führt uns den Hügel hinauf. Wie hat doch die jüdische Liebe diese Einöde in ein Eden verwandelt. Aus der Erde wachsen die Blumen und blühen die Rosen. Auf der breiten, sonnigen Veranda sitzen in bequemen Rohrsesseln zurückgelehnt die Alten und träumen. Hier die Gefilde, wo sie ihre Jugend verlebt, ihr Leben verträumt. Siebenzig und noch mehr Male sahen sie sie im frischen Grüne neu auferstehen und dann wieder sich in weißes Leichentuch hüllen, um dann wieder von neuem zum blühenden leben aufzuwachsen. Und dort das Feld der Toten! Bald, bald wird auch sie, die längst reife Ähre, unter der Hand des unerbittlichen Schnitters fallen. Der Winter wird kommen und dann - ein neuer Frühling, ein neuer Sommer?!   
Wie die alte, graue Erde im Blumenschmucke blüht und prangt! Wie die Sonne so eigen die fahlen, runzeligen Gesichter der Bewohner dieses lieben Hauses beleuchtet! 'Wie ist es, Jaune?' 'Gut, gut! Schön Wetter!' lächelt der Senior des Kantons, vergnügt die Hände reibend. Er ist unverwüstlicher Optimist und freut sich schon zum siebenundneunzigsten Mal mit dem warmen Sommer, den duftenden Blumen und dem schimmernden Sonnenschein... 
'Und Pessele, wie geht's immer?' 'Nicht gut! gar nie mehr gut' - stotterte die alte Pessele. Es ist ihre alte Begrüßungsformel, die sie seit 50 oder 60 Jahren jedem sagte. Sie kann nicht mehr anders. Neue Redewendungen kann sie auf ihre alten Tage nicht mehr lernen. Aber der sichere Schritt, die braune Gesichtsfarben das leuchtende, lachende Auge, die schnarrende Festigkeit ihrer Stimme, das alles redet eine andere Sprache und gibt anderen Bericht vom Stande der lebenden Ruinen, die hier im Tempel der Liebe gepflegt und erhalten werden.  
Endingen Israelit 01081907c.JPG (137372 Byte)Die liebenswürdigen Hauseltern führen mich in ein peinlich sauberes Zimmer, wo die Ostwand von einer einfachen Lade mit ihrem heiligen Inhalte ausgefüllt ist. Davor nur aus einem weiß und rot blinkenden Leuchter ein winziges Öllämpchen. Das Gotteshaus der Anstalt. Am Vorbeterpultchen blinken zwei einfache Messingleuchter. Ein Insasse hat aus dem wenigen, das er noch aus dem Schiffbruch der Zeiten gerettet, diese gestiftet. Auf dem Tische steht ein zierlicher Kelch aus Kunstglas, ein anderer der alten Hausgenossen hat mit diesem Kidduschservice sein Dankopfer gebracht. Die Thorarolle ist mit einem massiven silbernen Deuter geschmückt. Dieses hat der kleine lustige Alte gespendet, der nach einem leben voll Mühe und Enttäuschung hier in den sicheren Hafen eingekehrt ist und das wenige, was er noch besaß, nicht besser anzulegen wusste...
Und zweimal wöchentlich wird die neue prächtige Tora, die ein reiches Brüderpaar in London geschenkt, aufgerollt und unter Anweisung des silbernen Deuters daraus gelesen. Wie stolz deutet er auch nach der Stelle hin: 'Und ihr sollte nehmen von jedem Manne, dessen Herz gespendet hat.' 'Und dieses sollt ihr nehmen: Gold, Silber, auch Erz, Wolle usw.' Oder: 'Und die Seele, die ein Opfer vor Gott bringt, kann es schon mit einem Haufen Mehl geschehen lassen...'  
Und täglich zittert und leuchtet das Flämmchen der 'ewigen Lampe' so traulich und so hell. Es ist das Lichtlein, der heilige Funke im jüdischen Herzen, der zur hellen Flamme auflodert und von allen Winden und Stürmen, anstatt ausgelöscht, immer mehr angefacht wird... Es ist der winzige Keim, der unter der Erde lebt und treibt und aus Gräbern üppige, blühende Bäume erstehen lässt... 
Ein Lichtpunkt zitterte und schwirrte mir vor den Augen, als ich auf dem schmalen Talpfad links der Surb wieder heimwärts ging. Die volle Mittagssonne warf goldene Streifen auf die grünen Hügel und grauen Felsen und schaute auf den klaren Spiegel des Wassers hinab, wie mit Scheinwerfern die lustig auf- und untertauchenden Forellen bedeckend. Von den hohen Pappeln herunter singt und trillert es in tausend Tönen, die sich harmonisch mit dem bestrickenden Rauschen des Baches verbinden. Eine berauschende Melodie zum Texte der zitternden Lichtpunkte.... S."  

  
Über die jüdischen Gemeinden im Surbtal - Beitrag 1 über Endingen (Bericht von Selig Schachnowitz 1924)   
Anmerkung: Lehrer Selig Schachnowitz (geb. 27.5.1874 in Jurborg [Georgenburg] in Litauen an der Grenze zu Ostpreußen) ließ sich in Litauen, Deutschland (Frankfurt/Main) und in der Schweiz zum Lehrer ausbilden. Nach dem Studium trat er 1901 seine erste Stelle in Endingen an, wo er bis 1908 geblieben ist. 1908 verließ er die Schweiz und wurde er Herausgeber der orthodox-jüdischen Zeitschrift "Der Israelit", in dem er in den nächsten dreißig Jahren auch viele Artikel selbst publizierte. Schachnowitz lebte in dieser Zeit in Frankfurt, besuchte jedoch u.a. 1924 und 1925 seine früheren Gemeinden in der Schweiz - Endingen und Lengnau - wieder. 1938 konnte er in die Schweiz emigrieren, wo er am 22.1.1952 in Zürich im Alter von 78 Jahren starb.     
In dem im Januar 1924 erschienen Reisebericht erzählt er von einem Besuch in Endingen:  

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 24. Januar 1924 - Teil eines Reiseberichtes durch die Schweiz. "In der alten Kehilloh (jüdischen Gemeinde). Als ich damals das Dorf mit der Postkutsche verließ, lag der Schnee kniehoch auf der welligen Straße, und mein Freund Moritzle saß rocklos in der braunen Flanellweste auf der 'Kunst' - Backofenbank - und sandte mir ein 'Grüßgott' nach. Wie ich jetzt, nach sechszehn Jahren, mit dem Postauto ins Dorf einfuhr, lag der Schnee kniehoch wie damals und mein Freund Moritzle saß auf der 'Kunst' rocklos in der braunen Flanellweste und rief mir 'Grüßgott' zu. Es hatte sich äußerlich nichts geändert.  
Aber auf dem Weg von Postkutsche zum Postauto hat eine alte Gemeinde ihre reine Seele ausgehaucht.   
Das Auto setzt mich an der Post ab. Der Posthalter grüßt mich, als käme ich von einem Tagesausflug zurück. Die Menschen, soweit sie noch da sind, sind hier, frisch und bartlos, nicht älter geworden. 
Gegenüber der Post hätte aber der 'Szanale', der steinalte, zugeknöpfte Gemeindedespot, der mit festem Willen und unerbittlich über ein halbes Jahrhundert das ganze herrlich zusammenhielt, winken müssen; es geht dort kein Fenster mehr auf... Und ein paar Häuser weiter 'Menkele' mit den lachenden Augen und offener Hand, dessen Kosenamen schlecht zu der Hünengestalt stand, und seine 'Teile', die würdige Matrone der Gemeinde, die als Präsidentin des Frauenvereins alljährlich eine 'schöne Red' hielt und danach ins 'Wochenblättle' kam; das schöne Haus ist zugesperrt... Und hinter der Surb der 'Bachgetsch', der mit seinen kurzsichtigen Augen die Gemeindeakten las und hinterher noch im 'Kizzur'; das Haus ist abgebrochen... Und weiter oben in der Hirschgasse der 'Mendele', der als Aktuar der Gemeinde dreißig Jahre wohl mit blauer Tinte und eigener Orthographie
in einem schönen Gemisch von Aargauer Swizerdütsch und Endinger Jüdischdeutsch die Sitzungen 'protokollierte' und die Akten und Eingaben abfasste, alles beharrlich mit dem Satze beginnend: 'In Anbetracht der Umstände', auch er ist gegangen 'in Anbetracht der Umstände...' Und unten der Jakoble, der sangfrohe, der dem neuen Chasan (Kantor) die alten Endinger Melodien beibracht; er hat ausgesungen... Und auch Lewi Hersch, der kleine Mann mit dem Löwenbass, der Neilochasen (sc. ehrenamtlicher Kantor zum Neila-Gebet am Jom Kippur); seine Sonne hat sich längst gesenkt... Und der Simchele, und der Schmule und viele, viele andere...
Die schmale Surb rauscht und raunt zwischen den verschneiten Straßendämmen, das Dorf mittendrin durchschneidend, und sagt: Alles fließt...
Hinunter, hinunter, wo auf halbem Wege zwischen Endingen und Lengnau sich die riesige Totenstadt der beiden ältesten Gemeinden der Schweiz ausbreitet... 
Vom Schneider Samuel jenseits des Surb wurde mir vor Jahren überbracht, er sei ebenfalls den Weg alles Fleisches gegangen, was ich - er war, wie ich ihn verließ, bald ein Siebziger - ganz in Ordnung fand. Wie er jetzt langsam über das Brücklein getrottet kommt, den geteilten langen Kaiserbart schneeweiß, Wams und Hausvaterkappe ebenfalls weiß - es schneite - die Augen in eine andere Welt versunken, erschrecke ich nicht wenig. Die Toten entsteigen ihren Gräbern, mich zu grüßen... Bald werden auch 'Szanale' und 'Menkele' und der 'Bachgetsch' wieder da sein. Und auch 'Mendele', der Aktuar, 'in Anbetracht der Umstände...'. Der Irrtum klärt sich bald auf. Es traf nicht ihn, sondern seinen jüngeren Bruder, den Eduard - 'Edelwart' nannten wir ihn-. Also auch er, der ein Menschenalter im gleichen Rock und in der gleichen Kappe etwas wackelig zuweilen, besonders wenn Fremde im Dorfe waren und zu viel vom 'Surbtaler' spendierten, aber immer treu und ergeben seinen Schammesdienst in Synagoge und Gemeinde tat... Samuel lebt und beabsichtigt, wie er mir sagt, sich noch lange seines Lebens zu erfreuen. Es gäbe ja sonst am Schabbos kein Minjan... 
In anderen Häusern gibt es große Augen, da ich so urplötzlich, ein Stück ihrer Vergangenheit, in ihren Kreis hineinschneie. Hannchen, heute noch eine stattliche, schlanke Frau mit tiefliegenden, dunklen Augen, in einer Dachbude mit goldgesauber gescheuertem Fußboden, weint. Ich wage nicht, nach dem Manne zu fragen. Der Sessel am oberen Tischende steht leer... Aber der Sohn? Auch er, der Stolz und Ernährer der Familie, ist dahin. Es war Gruppe in der Schweiz, und er hatte sein Geschäft in Zürich. Hannchen weint... 
Und auch andere weinen. Keiner und keine von den wenigen, die noch da sind, die mir nicht ein paar Tränen von der Zwischenzeit her schuldig wären... Sie waren es von jeher gewöhnt, all ihr Leid und ihre Freude im Lehrerhause hinter der Synagoge auszuweinen. 
Dieses Häuschen - es steht noch da, als hätte ich es gestern erst verlassen, eingeklemmt von der Synagogenmauer vorne und dem Spritzenhaus mit der quer überhängenden großen Feuerwehrleiter an der Seite. Links auch das kleine Gärtchen, das ich treulich gepflegt, mit dem Zwetschgenbaum, den ich noch eine Woche vor meinem Weggang gepflanzt... Es ist stämmig und breitastig geworden, das schmale, dünne Bäumchen von damals und trägt im Sommer Früchte. Der brave Mann, der seit sechzehn Jahren hier seiner Amtes waltet, pflegt Baum und Gärtchen mit Liebe und Treue wie all meine anderen hier gestreuten Saaten. Den Niedergang konnte er nicht aufhalten...   
Und miten aus den wirren Haufen der Häuser und Häuschen mit den grünen Läden und sauber blinkenden Giebelaufgängen ragt der große barocke Synagogenbau, ein Denkmal alter Herrlichkeit, hervor. Hier auf dem Rasen pflegten schon um diese Zeit alle Männer der Gemeinde versammelt zu sein, in Abwartung der Minchezeit und Besprechung der Gemeindeangelegenheiten. Der Platz ist verödet, die Synagoge geschlossen, oft auch am Freitagabend.  
Ich lasse mir den Schlüssel geben und verrichte just an der Stätte, wo ich sieben Jahre, oft vor vollem Hause, gelehrt und gebetet, mein stilles, einsames Gebet. 
Und all die prächtigen Gestalten, der 'Szanele' und der 'Menkele' und der 'Bachgetsch' und der 'Mendele' und der 'Jakoble' kommen die Surb hinauf, füllen das Haus und beten mit:  
'Hüter Israels, hüte Israels Rest...'  
Und der 'Edelwart' sagt sein Kaddisch dazu... 
Noch am gleichen Abend fahre ich mit dem letzten Postauto zur Station und von dort nach Baden zurück. 
Im guten Bette des 'Zentralhofes' finde ich um die Mitternacht noch keinen Schlaf, höre immer noch das Gebet der Alten, Schlummernden, das Sterbegebet einer alten Gemeinde..."  

    
Über die jüdischen Gemeinden im Surbtal - Beitrag 2 über Lengnau (Bericht von Selig Schachnowitz von 1925)   
Anmerkung: In dem im September 1925 erschienen Reisenbericht erzählt Selig Schachnowitz von einem Besuch in Lengnau:  

Artikel in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 3. September 1925: "Auf der Höhe. Ferienbriefe aus der Schweiz von -tz. 
IX. Im Surbtale.  Als wir abends 'tief unten' in Baden angelangten, fanden wir das hübsche aargauische Städtchen an der Limat, geschmückt mit Wappen, Wimpeln und Girlanden, die sich protzig kleinbürgerlich von Straußenseite zu Straußenseite schlangen und vom langen Hängen schon ein bisschen müde und verschlissen aussagen.   
Ganz unten hinter dem Bahnhofe war in entzückend malerischen Hallen eine Gewerbeausstellung des Kantons Aargau untergebracht, die vom Kunstsinn und Gewerbefleiß dieses urdeutschen Stammes der Nordostschweiz in Farben und Formen und Konstruktionen Zeugnis ablegte. Viel Landvolk strömte tagein tagaus ins Städtchen, um sich in diesen Erzeugnissen seines eigenen Geistes und seiner emsigen Hand zu spiegeln. Da legte das saubere Städtchen, das überdies durch seine Lage und seine Thermalbäder auch ein wenig Weltbad spielt, reichen bunten Schmuck an. Und es gefällt sich darin so gut, dass es ihn gar nicht mehr ablegen mag.  
Da nun zweifelsfrei feststand, dass die Fahnen und Wimpeln und Girlanden nicht meinem Empfange galten, setzt ich mich noch am gleichen Tage in den Post-Autobus und fuhr ins Surbtal hinaus, dieses Mal nicht nach Endingen, sondern nach der anderen der zwei alten Muttergemeinden der Schweiz, Lengnau.  
Zwischen sonnenvergoldeten, lieblichen Wiesen geht der Weg, auf denen das Heu bereits zum drittenmal in die Höhe schießt. Auf den Äckern steht die gelbe Frucht schnittreif. Hie und da türmen sich schon die Ährenhaufen, dicker, großer, üppiger als auf dem wenigen ärmlichen Ackerlande im Gebirge. Ein Bauer legt mit langer Heugabel Fruchthügel um, dass sie vom Regen der Nacht trocknen. Es hat sich nichts geändert in diesem Tale. Achtzehnmal fiel die goldene Ähre unter der Hand des Schnitters, seitdem ich das Tal verlassen. Manchen lieben Freund hatte inzwischen der andere Schnitter hinweggerafft. Die Felder blühen und welken Jahr für Jahr und die Surb rauscht und raunt, als wollte sie mir alles von der Zwischenzeit erzählen...  
Einstens war dieser Boden, Sitz der zwei jüdischen Muttergemeinden der Schweiz mit autonomem Gemeinderechte, Schauplatz schwerer Kulturkämpfe. Die Reformflut hatte auch nach diesem stillen Erdenwinkel hinübergegriffen und hohe Wellen geschlagen. Es war in den sechziger und siebenziger Jahren, in den Flitterjahren der Emanzipation - der jüngsten in Mittel- und Westeuropa - , da die junge Freiheit einem kleinen Kulturkreise zu Kopfe gestiegen war. Mit dem Traume - von der absoluten sozialen und gesellschaftlichen Freiheit - war auch bald der Spuk zu Ende. Der alte, gute Geist sieht. - - -
Noch vor vierundzwanzig Jahren, da ich beim leisen Aufblühen der Kornblumen zum ersten Male dieses Gefilde betrat, ergoss sich hier der Strom des jüdischen Lebens wie aus sonnigen Höhen. In Endingen ragte - und ragt noch - eine massive Synagoge über die Häusergruppe des Dorfes mit Uhrglocken, die von der Kuppel dieses einzigen Gotteshauses am Platz herab - katholische und protestantische Kirche sammeln die Gläubigen der anderen Konfessionen in nebenanliegenden Dörfern - den Bauern die Zeit kündeten. Einige und achtzig jüdische Familien wohnten in einfachen Giebelhäuschen, deren Dielen und Stiegen am Freitag spiegelblank geputzt waren. In keinem dieser Häuschen wurde nur im Geringsten der Sabbat verletzt, in jedem konnte auch der Gewissenhafteste bedenkenlos essen. An den Wochentagen waren die Männer alle bis auf die einigen Außenseiter des Lebens, ein paar Greise und von der Gemeinde verpflegten Tölpel, weit weg im 'Welschland', im Bernischen, wo sie dem Viehhandel nachgingen, zum Teile auch ihre Ställe hatten, und sich fünf Tage in der Woche von Brot und Bier und einem Stückchen harter heimischer Wurst ernährten. Am Donnerstagabend schon sammelten sich die Verstreuten aus allen Gegenden, über Siggenthal und Dettingen kommen, im Heimatdorfe. Der Viehrock wurde abgelegt, und mit ihm alles, was drückte. Der Mensch begann, der Prinz... Die Frauen daheim, die die Woche über fast ausschließlich von gewärmtem Kaffee und gerösteten Erdäpfeln gelegt hatten, finden an zu kochen, zu backen, für die Männer, für den Sabbat... 
Am Freitagmorgen in aller Frühe schon rauchten alle Schornsteine. Aus allen Häusern drang der Duft der frischen 'Zwiebeldünnen' und des frischgebackenen Brotes. Die Synagoge, die Woche über spärlich besucht, war am Freitagmorgen schon gut gefüllt. Sorglos und zufrieden standen die Männer nach dem guten 'Dünnenfrühstück' in Gruppen vor dem 'Hirschen' oder der 'Krone', die Pfeife im Munde, in Hemdsärmeln im Sommer, in bunten Westen im Winter, und diskutierten über alle vorfälle in der Welt und der Gemeinde. Zuweilen läuteten Freitag Vormittag die Glocken im Rathause, das die jüdische Gemeinde gemeinsam mit der politischen hatte, und riefen zur Gemeindeversammlung, die man nur am Freitag bei Anwesenheit der Männer abhalten konnte.    
Es gab Schiurim, Lernen und öffentliche Vorträge, für die Gemeindestube und Schulraum zu klein waren. 
Freitagabend war das neue 'Lecho daudi' ein Ereignis, und vor Sabbatausgang stritt man heftig über die 'drei Sterne' ... 'Szanale hat zu bestimmen, er bringt die Nacht mit sich, ist ja Parnes...'  
Nach Sabbatausgang war man bis in die späte Nachtstunde im 'Laienhofe', dem jüdischen Gasthofe, bei Bier und Kartenspiel, vielleicht auch um einen Vortrag des Lehrers vereinigt.  
In der Morgenfrühe des Sonntags zogen wieder die Männer zur Station - der Königstraum einer Gemeinde war verflossen... 
Zu den Hohen Feiertagen glich die Gemeinde einem starb besuchten Wallfahrtsorte. 'Wie die Taube in ihren Schlag' kehrten alle die Einsiedler in den umliegenden Dörfer, aber auch die aus diesem Tale stammenden Städter zur Muttergemeinde zurück, um in ihren Armen sich in den heiligen Tagen auszurufen, auszuweinen. Keiner hätte gewagt, am Roschhaschonohabend (Neujahrsabend) die Synagoge zu betreten, ohne erst am Tage seinen Steuerobolus für die Gemeinde im Lehrerhause abzuliefern. Viele blieben über Sukkaus (Laubhüttenfest), da sich vor jedem Hause auf offener Straße, oft in phantastischer Zusammenstellung, eine Lattenhütte auftat.  
Am Simchasthoraabend spielte eine Bauernkapelle vor der Synagoge eidgenössische Nationalweisen und Jungen schossen Feuerwerk ab. Am Purim bewegte sich ein jüdischer Kostüm- und Maskenzug zu den Klängen der Blasinstrumente, gefolgt vom ganzen Dorfe, durch die Dorfstraße bis zur 'Krone', wo das Ballkomitee die Gäste empfing. Eine Frauenvereinigung half überall, wo zu helfen war, 'nähte' bei Todesfällen, sammelte für besondere Anlässe, ließ sich vom Herrn Lehrer Vorträge halten über 'Wahltätigkeit' oder 'Frauenrecht' und trank viel Kaffee beim 'Jahreskränzchen' im 'Laien'. Nichts fehlte, nicht einmal der Schabbosgoi und der Gemeindenarr... 
'Es war einmal' - so fangt auch dieses Märchen an... 
Dieselben Äcker, dieselben Wiesen. Nur dass der jüdische Acker hier keine Saaten und keine Frucht mehr zeigt. 
Die Surbtalbahn, die über die zwei jüdischen Dorfgemeinden führen sollte, war, wie ich vor bald einem Vierteljahrhundert dahinkam, im Plane in allen Teilen fertiggestellt, bis auf die Einweihungsrede, die ich im Namen der jüdischen Gemeinde halten sollte... Die Rede blieb ungehalten, die Schienen wurden bis auf den heutigen Tag nicht gelegt. Und der Autobus, der mich jetzt in einer guten halben Stunde durch das ganze Tal von Baden aus führt, fuhr damals noch nicht. Da sagten die Jüngeren: 'Kommt nicht die Bahn zu uns, so gehen wir zur Bahn.'  
Die Eisenstränge, die von Waldshut nach Turgi durch die nächsten Stationen laufen, liegen eine gute Stunde vom Orte entfernt. Sie führten die jüngere Generation hinaus, sie kam nicht wieder. 
Indes die Alten, einer nach dem anderen, die Chaussee nach Lengnau hingefahren wurden, wo sich das große Gräberfeld von altersher erhebt.
Das ist die Geschichte vom Untergang einer Landgemeinde, vieler Landgemeinden. - - - 
Eine halbe Stunde später sitzen wir auf der kleinen Holzveranda, hier Laube genannt, im sauberen Häuschen Neubergers, der in Lengnau seines Lehreramtes waltet und blicken gerade hinaus auf die in der Nachmittagssonne brütende Wiese. Links in einiger Ferne ragen Steine des alten Friedhofes, des einzigen gemeinsamen Punkte, an dem sich die beiden Gemeinden trafen und treffen. Rechts schaut aus dem Gebüsch über die bretterumzäunten Krautgärten aus nächster Nähe die stattliche Fassade des Altersasyls, das die letzten Menschenruinen der beiden Gemeinden aufgenommen und in Liebe behütet.  
Lengnau, früher kleiner an Zahl und ganz von dem rührigen Endingen überschattet, hat sich im Verhältnis besser gehalten, dank dem bestens geleiteten Altersasyl, das noch letztes glimmendes jüdisches Leben birgt. Wie in Endingen, ist auch hier die prächtige Synagoge in ganze Woche geschlossen. Aber es wir täglich mit Minjan gebetet im Altersasyl, allsabbatlich auch noch gelernt. Unser Neuberger müht sich redlich, noch aus Ruinen letzte Reste jüdischen Lebens zu zaubern. In der guten Stube des Lehrers wartet, indes wir in der Laube plaudern, das Kind. Es ist die derzeitige Religionsschule Lengnaus. In Endingen, wo zu meiner Zeit etwa 60 bis 70 Kinder in vier Klassen täglich religiöse Unterweisung erhielten, dürfte heute gar kein Kind mehr warten...  
Auf der einen Seite das Altersasyl, auf der anderen in einer Entfernung der alte Friedhof - das ist das heutige jüdische Surbtal.  
Tags darauf sitze ich in der hübschen geräumigen Synagoge des aufstrebenden Baden auf den Stufen zur 'Heiligen Lade' neben einem Herrn aus Fulda, der, stimmbegabt und sangfroh, die Fuldaer Trauermelodien in den Raum hinausschmettert. Es ist der neunte Aw. Auch ich komme wiederholt daran, und darf laute Klagen anstimmen über 'den Berg Zion, der verwüstet ist, wehe!' Im Geiste füge ich den Kinaus (Klagelieder) noch ein Klagelied an - über die Zerstörung heiligen jüdischen Lebens an den Ufern der Surb..."  

    
    
    
     

     

 

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Stand: 05. Januar 2014