Erich Bernheim: Mein Leben bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs

 

Herausgegeben und übersetzt von Christoph Knüppel

 

 

Die folgenden Erinnerungen, die Erich Bernheim aus Riedlingen im Dezember 1982, kurz vor seinem Tod, für seine Angehörigen niederschrieb, wurden mir von dessen Sohn David Bernheim zur Verfügung gestellt.[1] David Bernheim war mir auch, ebenso wie seine Tante Elisabeth Bernheim, bei der Kommentierung behilflich. Er hat sich lange Jahre in London im „Second Generation Network“, einem Verband von Nachfahren jüdischer Holocaustopfer, engagiert und ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Second Generation Voices“. Inzwischen lebt er mit seiner Familie in Südfrankreich. Sein Vater Erich Bernheim, der mit 17 Jahren nach England kam und sich dort „Eric“ nannte, hat seine Erinnerungen in englischer Sprache verfasst. Für die vorliegende Veröffentlichung habe ich geringfügige Kürzungen vorgenommen. Fehlerhafte oder ungenaue Zeitangaben im Original wurden stillschweigend korrigiert bzw. präzisiert.

 

Manche Menschen haben ein sehr gutes Gedächtnis und können sich auch an frühe Kindheitserlebnisse erinnern. Anderen sind diese Erlebnisse verschlossen. Ich gehöre eher zum zweiten Typus und habe nur wenige Erinnerungen an meine Kindheit. Geboren wurde ich am 9. Juli 1922, einem Sonntag, und man berichtete mir, dass die Geburt in der Mittagszeit erfolgte, weil mein Vater in einer der örtlichen Gaststätten gerade an einem Geschäftsessen teilgenommen habe. Meine Eltern[2] hatten ein Geschäft in Riedlingen in Süddeutschland.[3] Wir verkauften Kurzwaren, Vorhänge, Pullover usw., allerdings nicht nur im Einzelhandel, sondern mein Vater belieferte auch die Geschäfte in den umliegenden Dörfern mit diesen Waren. Das ist auch einer der Gründe, weshalb wir schon recht früh ein Auto besaßen. Ich kann mich erinnern, dass unser erstes Auto ein grüner Opel-Tourenwagen war, den wir „Laubfrosch“ nannten und mit dem mein Vater die Kunden in der Umgebung besuchte. Meine Mutter half für gewöhnlich im Geschäft, und außerdem beschäftigten wir zwei oder drei Mädchen sowie einen jungen Mann, dessen Aufgabe es war, Pakete von der Post zu holen und andere niedrige Arbeiten zu erledigen, die für die Mädchen zu anstrengend waren.

 

Hinter dem Haus, das wir bewohnten und in dessen Erdgeschoss auch das Geschäft lag, besaßen wir noch ein dreistöckiges Lagerhaus, dessen Erdgeschoss jedoch nicht als Warenlager genutzt wurde.[4] Haupthaus und Lagerhaus waren durch einen Steg im ersten Stockwerk miteinander verbunden, und meine Schwester Elisabeth und ich liefen darauf oft hinüber zum Lagerhaus, in dem wir meist spielten. In den großen Holzregalen, die in jedem Stock eingebaut waren, um die Waren zu lagern, bauten wir uns Häuser. Ich erinnere mich auch noch, dass auf dem Laufsteg eine Kiste stand, in der meine Mutter Schnittlauch zog. Unser Wohnhaus hatte drei Stockwerke und drei oder vier Dachgeschosse. Im ersten Dachgeschoss waren ein paar Räume, die von unserem Dienstmädchen genutzt wurden. Als mein Bruder Kurt geboren wurde[5], hatten wir eine Kinderfrau für ihn, die ebenfalls in diesem Dachgeschoss schlief. Wir wohnten in unserem Haus zusammen mit meiner Großmutter, der Mutter meiner Mutter.[6] Im ersten Stockwerk lagen das Schlafzimmer meiner Großmutter, unser Wohnzimmer, die Küche, das Badezimmer, ein Abstellraum und ein Klo. Das Badezimmer war mit einem Boiler ausgerüstet, der immer wenn jemand baden wollte, mit Holz bestückt und angezündet werden musste. Im zweiten Stockwerk lagen das Schlafzimmer meiner Eltern und unsere Schlafzimmer, sowie eine weitere Küche, die allerdings meines Wissens nie benutzt wurde. Außerdem gab es noch einen Raum, der als Esszimmer meiner Eltern eingerichtet war, aber auch nie als solches genutzt wurde.

 

Meine anderen Großeltern waren vor meiner Geburt gestorben. [7]  Die Eltern meines Vaters hatten in Buchau am Federsee gelebt, wo sich die nächste jüdische Gemeinde befand, und sind dort beerdigt worden, ich glaube, zusammen mit dem einzigen Bruder meines Vaters, der bereits als Kind gestorben war.[8] Die Eltern meiner Mutter[9] kamen aus Buttenhausen, wo ebenfalls eine jüdische Gemeinde existierte, und mein Großvater ist in Buttenhausen beerdigt worden. Während mein Vater der einzige erwachsene Sohn seiner Eltern war und diese ebenfalls aus sehr kleinen Familien stammten, lag die Sache bei meiner Mutter ganz anders. Meine Großmutter mütterlicherseits hatte neun Geschwister und auch sie brachte zehn Kinder zur Welt.[10] Aus diesem Grund habe ich so viele Verwandte aus der mütterlichen Linie, und weil diese damals alle in einem engen Umkreis lebten, trafen wir sie recht häufig und waren mit den meisten von ihnen vertraut.

 

Unsere Ferien verbrachten wir bei Onkeln und Tanten, was im Allgemeinen eine kurze Bahnfahrt bedeutete. Die meisten Leute fuhren damals mit der Eisenbahn, denn die Landstraßen waren nicht in so einem guten Zustand wie heutzutage. Als meine Eltern einmal mit dem Auto zu einer Familienfeier nach Stuttgart fahren wollten (das ist eine Entfernung von ungefähr 60 Meilen), wurde nach längerer Beratung entschieden, dass man in diesem Fall lieber das örtliche Fuhrunternehmen in Anspruch nehmen sollte. Familientreffen spielten in unserem Leben eine große Rolle. Bei jedem besonderen Geburtstag fand eine Familienfeier statt, wobei die Zahl der Gäste mit dem Alter des Geburtstagskindes stieg. Die größte Zusammenkunft fand statt, als Louis Landauer, das nominelle Oberhaupt der Landauers und mit Sicherheit das reichste Familienmitglied, 70 wurde.[11] An dem Festmahl müssen ungefähr 150 Verwandte teilgenommen haben, und ich kann mich noch an das Gruppenfoto erinnern, das bei dieser Gelegenheit aufgenommen wurde.

 

Neben unserem Wohn- und Geschäftshaus und dem Lagerhaus dahinter gehörte uns noch das Gebäude neben dem Lagerhaus. Es war eine ziemliche Bruchbude und wurde von einem Familienfaktotum namens Frau Baur[12] bewohnt. Außerdem beherbergte das Haus die Garage für unser Auto, und wenn ich meinen frühesten Erinnerungen trauen kann, hatten wir dort auch einen Stall mit ein paar Ziegen. Wir hatten ferner zwei Gärten, einen nur für Gemüse und Beerenobst und einen etwas größeren mit einem ausgedehnten Obstgarten.[13] Auch dieser besaß ein Gemüsebeet und muss früher mehrere Bienenschwärme beherbergt haben, weil ihn noch ein Bienenhaus zierte. In diesem Garten stand auch ein hübsches Gartenhaus, das wir viel benutzten. Im Frühjahr, wenn der Schnee schmolz und die Donau über ihre Ufer trat, wurde der Garten immer überschwemmt. Weil sich das alljährlich wiederholte, machte sich deswegen aber niemand Sorgen. Am hinteren Ende des Gartens war ein Tor, durch das wir an das Donauufer gelangten, das keine 30 Meter entfernt war. Im Sommer gingen wir dort baden, und weil das Wasser nicht sehr tief war, durften wir, auch als wir noch nicht schwimmen konnten, dort ins Wasser gehen. Das Baden machte mir jedoch nicht viel Freude, weil die Strömung stark und das Wasser entsprechend kalt war.

 

Riedlingen hatte zu dieser Zeit rund 2500 Einwohner und war als Kreisstadt das Zentrum des Umlands. Ungefähr alle vier Wochen fand ein großer Jahrmarkt statt. Bauern aus den Nachbardörfern kamen, um ihre Produkte zu verkaufen und um umgekehrt ihren Bedarf in den örtlichen Geschäften zu decken, in denen die Auswahl größer war als in den Dorfläden. Das führte häufig zu Tauschgeschäften mit Hühnern, Eiern, Butter und anderen Produkten, die gegen Pullover oder Vorhänge eingetauscht wurden.

 

In Riedlingen lebten damals zwei weitere jüdische Familien.[14] Die eine war die Familie des Bruders meiner Mutter, Herbert Siegfried Oettinger. Die andere war ein Ehepaar, mit dem wir nicht viel zu tun hatten. Ich weiß nicht mehr, welchen Grund das hatte; vielleicht lag es daran, dass das Ehepaar kinderlos war.[15] Onkel Herbert und Tante Carrie lebten in einem Haus schräg gegenüber.[16] Das Haus war der erste Wohnsitz meines Urgroßvaters, als dieser von Buttenhausen nach Riedlingen zog.[17] Herbert und Carrie hatten zwei Kinder: Ernst, der später Jura studierte, und Eva, deren Ausbildung durch die politischen Verhältnisse unterbrochen wurde. Ihr Geschäft verkaufte in der Hauptsache Damenbekleidung sowie Porzellan- und Steingutwaren und stellte daher natürlich keine Konkurrenz für das Geschäft meiner Eltern dar. Onkel Herbert besuchte ich oft, um mir von ihm bei den lateinischen Hausaufgaben helfen zu lassen. Er war in Latein viel besser, als ich die Aussicht hatte, das jemals zu werden. Unglücklicherweise bemerkte mein Lehrer von Zeit zu Zeit, dass ich die im Unterricht präsentierten Hausaufgaben nicht ganz selbstständig angefertigt hatte, und so musste ich, je nach Schwere des Regelverstoßes, Stockschläge auf die Hände oder auf das Hinterteil erdulden. Ich erinnere mich auch, dass Onkel Herbert zu den frühen Besitzern eines Rundfunkgeräts gehörte. Betrieben wurde dieses mit riesigen Batterien, ähnlich heutigen Autobatterien. Außerdem musste man bestimmte Spulen wechseln, wenn man einen anderen Sender hören wollte.

 

Unser Wohnhaus stand am Marktplatz, das von Onkel Herbert war in der Lange Straße. Am anderen Ende des Marktplatzes lag das Rathaus und ein wenig weiter die Pfarrkirche. Weitere hundert Meter entfernt stand das Schulgebäude, in dem nicht nur die Volksschule mit acht Klassen, sondern auch die beiden weiterführenden Schulen untergebracht waren. Im Progymnasium wurde eine humanistische Bildung mit Latein und Griechisch angeboten. In der Realschule wurde ein Bildungsgang mit Latein und Französisch und ein Bildungsgang mit Französisch als einziger Fremdsprache und der stärkeren Ausprägung anderer Fächer angeboten. Ich hatte mich für Latein und Französisch entschieden. Damals kam mir der Schulweg ziemlich lang vor; als ich später noch einmal in Riedlingen war und die Strecke zurücklegte, musste ich schmunzeln, weil mir die Entfernung nun so gering erschien.

 

Die Hauptreligion in der „Stadt“ war die römisch-katholische, auch wenn daneben eine kleine evangelische Gemeinde mit ihrer eigenen Kirche bestand. Riedlingen lag an der Bahnlinie von Ulm nach Donaueschingen und war zudem Ausgangsstation für die Linie nach Schussenried. Der Bahnhof war rund 800 Meter von unserem Wohnhaus entfernt. Als Kind mochte ich diesen weiten Weg nicht gerne gehen. Jenseits des Bahnhofes befand sich ein kleiner Kiefernwald, den wir an Sonntagen oft mit der ganzen Familie aufsuchten, um Champignons und andere Speisepilze zu sammeln. Meine Großmutter kannte sich mit Pilzen sehr gut aus. Unsere Pilzernte wurde dann in ihrem halbgeöffneten Schirm nach Hause getragen.

 

Um alle örtlichen Geschäftsinhaber gleich zu behandeln, mussten meine Eltern unser Brot jeden Tag in einer anderen Bäckerei kaufen. Genauso verfuhren sie mit den Metzgern und Gemüsehändlern. Auch wenn wir auswärts essen gingen, wurde das Rotationsprinzip angewandt, damit jedes Restaurant oder Hotel an die Reihe kam und sich niemand brüskiert fühlen konnte. Ich erinnere mich noch, dass zu Weihnachten in den meisten Fällen Gans gegessen werden musste, was meiner Mutter zweifellos nicht leicht gefallen ist.

 

In meinen Augen war meine Mutter eine sehr gute und sorgsame Hausfrau. Wir hatten auch fleischlose Tage, an denen das Mittagessen nur aus Kaffee und Kuchen bestand. Zum Glück gab es nur selten ein Essen, das „schwarzes Mus“ genannt wurde und so schmeckte, als würde es nur aus Kleie bestehen.[18] Heute frage ich mich, was dieses Essen wirklich enthielt. Möglicherweise war sein Hauptzweck, ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass andere Menschen weniger zu essen haben oder sich mit schlechterem Essen begnügen müssen. Meine Mutter hatte eine gute Beziehung zu drei ehemaligen Schulfreundinnen. Mit ihnen traf sie sich mehr oder weniger regelmäßig zum Kaffeetrinken und Erzählen.[19] Mein Vater dagegen besaß keine Schulfreunde in Riedlingen, weil er ja aus Buchau kam. Außerhalb seiner Familie dürfte er nicht viele Menschen gekannt haben, denen er vertrauen konnte. Rückblickend glaube ich, dass er wirkliche Freundschaften vermisst hat. Er war zweifellos ein guter und erfolgreicher Geschäftsmann und war bei all seinen Kunden sehr beliebt.

 

Ich erinnere mich nicht mehr, an welchem Wochentag mein Bruder Kurt geboren wurde; ich weiß nur noch, dass es am 19. Februar 1931 war. Ich glaube, dass die Geburt, wie bei uns allen, daheim stattfand. Das nächste Ereignis, das mir im Gedächtnis ist, war das Attentat auf König Alexander von Jugoslawien, der sich in Marseille mit dem französischen Außenminister Louis Berthou getroffen hatte.[20] Ich weiß noch, dass die Zeitung aus diesem Anlass ein Extrablatt herausgab. Ich erwähne das hier, weil das nächste Extrablatt verkündete, dass Hitler zum deutschen Reichskanzler ernannt worden war.[21] Das beschäftigte mich damals nicht allzu sehr, auch wenn natürlich bei uns zu Hause darüber gesprochen wurde. Keiner von uns erkannte damals, zu welchen Veränderungen in unserem Leben dieses Ereignis führen würde.

 

Eine Zeitlang veränderte sich nur wenig, abgesehen von dem Boykott jüdischer Geschäfte im April 1933, der auch in Riedlingen durchgeführt wurde. Dennoch war eine allmähliche Veränderung der allgemeinen Atmosphäre zu beobachten. Die Menschen ließen sich nicht mehr gerne beim Einkaufen in jüdischen Geschäften beobachten, viele betraten und verließen unser Geschäft durch die Hintertür, die zu der Gasse führte, an der unser Lagerhaus stand. Sie fühlten sich dadurch weniger beobachtet, und dies wahrscheinlich zurecht, denn gegenüber am Marktplatz befand sich eine Apotheke, die einen fanatischen Nazi beschäftigte. In der Schule bemerkte ich nur geringfügige Veränderungen. Ich weiß noch, dass ich von einigen Sportveranstaltungen, die am Samstag stattfanden, ausgeschlossen wurde, und dass bestimmte Klassenkameraden mich mieden oder mich nicht ansprachen.

 

Meine Eltern suchten nach Mitteln und Wegen zu emigrieren, aber es war nicht einfach, ein Aufnahmeland zu finden. Die Auswanderung nach Palästina war beschränkt und man brauchte ein „Zertifikat“, um dorthin zu gelangen. Dieses Zertifikat war nicht leicht zu bekommen, aber schließlich erhielten wir das Angebot, zwei Zertifikate zum Preis von jeweils 1000 Dollar zu erhalten. Damals war das sehr viel Geld. Als wir meinen Vater fragten, warum er dieses Angebot nicht angenommen habe, entgegnete er, dass er das Geschäft nicht so kurzfristig verkaufen könne und wir daher die Gelegenheit verstreichen lassen müssten. Wie hätten wir ahnen können, dass dies die einzige Gelegenheit sein sollte, die sich meinen Eltern je bieten würde.

 

Im Oktober 1935 wurde ich auf ein Internat in Südschweden geschickt, damit ich meine schulische Ausbildung störungsfrei und ohne äußeren Druck abschließen könnte. Die Schule war eine deutsch-jüdische Einrichtung und der Unterricht wurde auf deutsch erteilt. Jüdische Themen standen zwar auch auf dem Lehrplan, doch handelte es sich nicht um eine streng religiöse Schule. Als ich zum ersten Mal nach Schweden reisen musste, fuhr Onkel Siegfried[22] mit mir bis Berlin und setzte mich dort in den richtigen Zug nach Lund, wo ich aussteigen musste.[23] Die Überfahrt auf der Ostsee war meine erste Fahrt auf dem Meer und ich wurde heftig seekrank, obwohl die See ruhig wirkte. Es war das einzige Mal, dass ich in meinem Leben seekrank war. Später fuhr ich noch häufig von Schweden nach Riedlingen und zurück, und das Wechseln der Bahnhöfe und Züge in Berlin gelang mir problemlos. Oftmals traf ich in Berlin Schulfreunde, die mit mir nach Lund fuhren. Neben den gewöhnlichen Schulfächern stand auch Gartenbau, Tischlern und Hühnerhaltung auf unserem Lehrplan. Darüber hinaus kann ich mich nicht an vieles erinnern, was diese Schule von anderen Schulen unterschieden hätte, aber ich habe meine Schulzeit in Schweden sehr genossen.

 

1936 wurde mein fünfjähriger Bruder Kurt in der örtlichen Presse angegriffen, weil er sich „deutschfeindlich“ geäußert hatte. Als ein Panzer vorbeifuhr, soll ein kleiner Junge ihn gefragt haben: „Was glaubst du, was das ist?“, und Kurt soll geantwortet haben: „Das ist Barcelona“, in Anspielung auf den spanischen Bürgerkrieg, der gerade begonnen hatte. Sein Gesprächspartner sei über diese Antwort in Zorn geraten und habe gefragt: „Und was sagst du dann über Deutschland?“, worauf Kurt geantwortet habe: „Deutschland ist ein Haufen Scheiße!“. Bei dieser Veröffentlichung erwähnte der Redakteur natürlich, dass der Junge solche Bemerkungen nur am Esstisch seines Elternhauses aufgeschnappt haben konnte. Meine Eltern brachten Kurt daraufhin in ein Kinderheim irgendwo mitten im Schwarzwald. Meine Mutter verbrachte wenig später eine Urlaubswoche in dem Dorf, das der Schule benachbart war. Hier konnte sie sich von der Belastung erholen, die das vorangegangene Ereignis bedeutet hatte.

 

Die Schule in Schweden besuchte ich bis zum Frühjahr 1937. Im Mai 1937 wechselte ich dann an die ORT-Schule in Berlin, die gerade eröffnet worden war.[24] Ich glaube, dass ich der erste Schüler war, der vom designierten Schulleiter Hans Behrendt in einem Aufnahmegespräch befragt wurde. Die ORT-Schule war im Norden Berlins in der Moabiter Straße gelegen, und ich fand eine Bude im Westen. Wir lernten alle Fertigkeiten eines Mechanikers wie Feilen, Fräsen, Formen und Drechseln, aber auch das Schmiedehandwerk. Es gab auch theoretischen Unterricht, aber daran kann ich mich nicht mehr im Einzelnen erinnern. Während meines Aufenthalts in Berlin besuchte Elisabeth eine Haushaltungsschule unweit von München.

 

Am 7. November 1938 wurde der deutsche Botschaftssekretär in Paris erschossen und ein junger Jude wurde angeklagt, ihn ermordet zu haben.[25] Das führte in Deutschland zu einem organisierten Pogrom, bei dem die Synagogen in Brand gesteckt und die Schaufenster der jüdischen Geschäfte zerbrochen wurden. Die meisten Juden wurden in Schutzhaft genommen und in Konzentrationslager gebracht. Unser Geschäft wurde auf Anordnung des Bürgermeisters von Polizisten bewacht und nichts wurde zerbrochen oder zerstört. Meine Onkel jedoch landeten alle im Konzentrationslager, die meisten in Dachau. Einer starb dort[26], die anderen kehrten nach Hause zurück, schwiegen aber über das, was sie erlebt hatten. Ich nehme an, dass sie sehr vorsichtig waren, weil wir noch jung waren und sie nicht das Risiko eingehen wollten, dass wir etwas weitererzählten. Kurz darauf beschlossen meine Eltern, das Geschäft zu verkaufen.[27] Der Käufer war ein hohes Tier bei den örtlichen Nazis.[28] Meine Eltern zogen in ein Mietshaus in Stuttgart, wohin kurz zuvor bereits meine Großmutter gezogen war.[29] Das Riedlinger Geschäft meines Onkels wurde ebenfalls verkauft.

 

Im Frühjahr 1939 kam Kurt mit einem Kindertransport nach England und fand Aufnahme bei einer Familie Lennard im Londoner Stadtteil Hampstead Heath. Kurz darauf kam auch Elisabeth, die als Haushaltshilfe zu einer Familie nach Edinburgh ging.

 

In Deutschland konnte man den Krieg kommen sehen, und meine Eltern waren darauf bedacht, dass auch ich das Land verlassen sollte. Aber das war leichter gesagt als getan. Es gab bereits Gerüchte, dass die ORT-Schule nach England verlegt werden sollte. Als der Krieg nun unabwendbar erschien, wurde beschlossen, die Werkstatteinrichtungen in Deutschland zurückzulassen und nur die Lehrer und Schüler zu verlegen. Ich erinnere mich, dass ich einem Mitarbeiter half, unsere ganzen Pässe zum britischen Konsulat zu bringen, damit wir die erforderlichen Visa erhielten. Wir verließen Berlin am 27. August 1939, einem Sonntag.[30] Während der Bahnfahrt nach Köln konnten wir mehrere Militärtransporte und die Aufstellung von Flugabwehrgeschützen beobachten. Ich erinnere mich gut daran, wie wir die deutsche Staatsgrenze überfuhren; in unserem Waggon brach ein Riesenjubel los, endlich hatten wir diese bedrückende und bedrohliche Atmosphäre hinter uns gelassen.

 

Wir verließen den Zug in Nijmwegen, wo wir von Frau Wijsmuller empfangen wurden, die offenbar recht bekannt war wegen ihrer Tätigkeit für deutsch-jüdische Flüchtlinge.[31] In den Niederlanden wurde gerade mobilisiert und wir bekamen zwar unseren Zug nach Vlissingen[32], wurden aber mitten in der Landschaft ausgesetzt, weil die Lokomotive für einen anderen Zug benötigt wurde. Wie auch immer, schließlich erreichten wir den Hafen und wurden auf die Fähre nach England geführt, die „Koningin Emma“[33]. Da die Abfahrtszeit auf den Morgen festgelegt war, schliefen wir auf dem Deck, überglücklich, dass wir bis hier gekommen waren. In Harwich wurden unsere Reisepässe pflichtgemäß mit einem Stempel versehen, als wir dort gegen Abend ankamen, und wir bestiegen den Zug nach London. Dort wurden wir von Colonel Levey[34] in Empfang genommen, der uns in militärischer Ordnung antreten und in das Rowton-Haus in der Whitechapel Road marschieren ließ. Das Rowton-Haus war eine Herberge der Heilsarmee, und so etwas hatte natürlich noch niemand von uns gesehen.[35] Die wenigsten Jungen konnten in dieser Nacht schlafen. Die einen hatten Angst vor Flöhen und anderem Ungeziefer, die anderen waren einfach zu aufgeregt.

 

Am nächsten Morgen wurden wir zu Bussen geführt, die uns zu unserer Übergangswohnung im Kitchener Camp in Richborough bringen sollten.[36] Vorher jedoch wurden wir von den jüdischen Bewohnern des Londoner East End mit Äpfeln, Orangen, Würsten und anderen Nahrungsmitteln schier überhäuft. Das hat bei mir einen sehr tiefen Eindruck hinterlassen. Hätte es anderswo, etwa in Frankreich oder vor 1933 in Deutschland, einen solchen Willkommensgruß gegeben? – Das Kitchener Camp bestand aus alten Militärbaracken und berbergte damals zahlreiche deutsch-jüdische Flüchtlinge. Wir wurden dort im Gemeinschaftsraum untergebracht.

 

Wir waren am 29. August in England und am nachfolgenden Tag im Kitchener Camp angekommen. Dort hörten wir dann am Sonntagmorgen im Radio die Kriegserklärung.[37] Fast zeitgleich ertönten die Luftschutzsirenen, und wir krochen alle unter unsere Betten, so wie es uns erklärt worden war. Weil es sich nur um eine Übung handelte, folgte jedoch kein Angriff. Ich arbeitete im Kitchener Camp als Pflegehelfer im Krankenhaus und genoss auf Grund dieser Tätigkeit bestimmte Vergünstigungen.

 

Im Dezember 1939 wurde die ORT-Schule in Leeds neu eröffnet[38] und wir zogen dorthin um. Wir wurden in zwei Herbergen und zwei kleinen Häusern untergebracht. Die Hauptherberge lag in der Chapeltown Road 309, auf dem dazugehörigen Grundstück befanden sich die beiden kleinen Häuser, das „Grüne Haus“ und das „Rote Haus“. Ich wohnte zuerst in der Hauptherberge, später dann im „Grünen Haus“. Bis zur Schule war es von dort ein längerer Fußmarsch.

 

1941 traten mein Mitschüler Joël Baumgart und ich unsere Arbeit als Werkzeugmacher bei der Crown Manufacturing Company in Leeds an. Dieses Unternehmen hatte ursprünglich Uhren importiert, verlegte sich aber während des Krieges auf die Werkzeugmacherei. Ich musste dort eine Einspannbohrmaschine betätigen. Das war eine Arbeit, die viel Genauigkeit verlangte und mir zusagte.

 

Von Kriegserlebnissen kann ich nur wenig berichten. Ich kann mich nur an einen einzigen nächtlichen Angriff auf Leeds erinnern, wobei ich mich allerdings am Morgen danach fragte, ob Leeds wirklich das eigentliche Angriffsziel gewesen war. Wir sahen lediglich einige Sandsäcke, die auf der Straße verstreut waren. Andere erzählten uns dann, dass sich der Luftangriff tatsächlich auf Leeds gerichtet hätte.

 

Ich setzte meine Arbeit als Werkzeugmacher fort, bis das Kriegsministerium am 20. September 1944 die Bildung einer „Jüdischen Brigade“ ankündigte. Joël Baumgart und ich sprachen darüber und beschlossen dann, uns freiwillig dafür zu melden. Am 18. Januar 1945 mussten wir mit 40-50 weiteren Freiwilligen in Maidstone[39] zur Grundausbildung antreten. Nach vier Wochen hatten wir die Ausbildung abgeschlossen und wurden nach Neapel eingeschifft. Von dort aus sollten wir zum Hauptkontingent der „Jüdischen Brigade“ stoßen. Dieses bestand aus jüdischen Siedlern, die aus Palästina kamen und sich auf Hebräisch verständigten.

 

In Neapel erhielten wir zunächst den Befehl, mit dem Zug nach Rimini zu fahren. Dort angekommen, hieß es aber, dass wir im Zug bleiben sollten und weiterfahren würden. Die Front war nicht allzu weit entfernt, und um ehrlich zu sein, bekam ich es ein wenig mit der Angst zu tun. Als wir aber schließlich in Forli ausstiegen[40], hatte sich die Frontlinie bereits weiter nach Norden verlagert und meine Angst erwies sich als grundlos. Die deutsche Front brach gerade zusammen und wir erlebten keine einzige Kampfhandlung mehr. In einem Ort namens Brisighella[41] übernachteten wir in kleinen Biwakzelten, in dem gerade zwei Personen Platz fanden. Dort blieben wir bis zum Tag des Sieges, dem 8. Mai 1945. Als das siegreiche Ende des Krieges verkündet wurde, beschlossen wir, dass dies nun wirklich ein Grund zum Feiern sei. Wir besorgten uns mehrere Flaschen Alkohol und suchten uns einen geeigneten Platz in der Nähe der Stadt. Ich kann mich noch gut erinnern, wie wir tranken und herumalberten, aber meine nächste Erinnerung besteht darin, dass wir in einem Raum mit einem winzigen, vergitterten Fenster aufwachten. Auf meine Frage, wo wir wären, antwortete ein Kamerad: „Im Stadtgefängnis!“. Kurz darauf wurden wir dann zu vierzehn Tagen „offenem Arrest“ verurteilt. Das bedeutete, dass wir das Militärlager nicht verlassen durften und Sonderarbeiten, vor allem Küchendienst, verrichten mussten. Wie eine solche Strafe dann aussah, war natürlich sehr vom Küchenoffizier abhängig. Wenn dieser den Delinquenten freundlich gesonnen war, hatte man zusätzliches Essen und wenig Arbeit. Wir hatten in dieser Beziehung Glück und verbrachten in Brisighella noch eine schöne Zeit.

 

Dann wurde unsere Brigade nach Tarvisio verlegt, unweit der Grenze zu Österreich.[42] Kurz nach unserer Ankunft wurde ich dort gefragt, ob ich mit einigen anderen Soldaten nach Deutschland fahren wolle, um dort nach Hinweisen zum Verbleib meiner Eltern zu suchen. Ich war natürlich sehr darauf erpicht, dieser Gruppe anzugehören, und erinnere mich, dass wir am 9. Juli 1945, meinem Geburtstag, in Stuttgart waren. Dort sprach ich zwar den Verwalter des Hauses, in dem meine Eltern zuletzt gewohnt hatten, aber der konnte mir nicht viel berichten. Er wusste nur, dass meine Eltern zusammen mit den anderen Stuttgarter Juden deportiert worden waren. Wohin sie von Stuttgart aus gebracht wurden, konnte er jedoch nicht sagen. Natürlich habe er ihnen in ihrer Not beigestanden, so gut es irgend ging! – Aber das war damals eine sehr beliebte Behauptung in Deutschland. Keiner wollte ein Nazi gewesen sein, alle waren dagegen usw. – Ich kehrte nach Tarvisio zurück, ohne das Geringste über das Schicksal meiner Eltern herausgefunden zu haben, und meinen Kameraden wird es nicht viel besser ergangen sein.

 

Später wurden wir zunächst nach Antwerpen und dann nach Gent verlegt. Hier, in Gent, wurde die „Jüdische Brigade“ aufgelöst. Das Kontingent aus Palästina kehrte in seine Heimat zurück, und die wenigen britischen Juden, die sich freiwillig gemeldet hatten, konnten sich aussuchen, bei welchem Regiment sie zukünftig dienen wollten. Joël Baumgart, Richard Kobliner und ich entschieden uns für das „York and Lancashire Regiment“, dem wir am 15. Oktober 1946 zugewiesen wurden. Doch zunächst wurde unser britisch-jüdisches Kontingent nach Bielefeld in Westfalen gebracht. In Bielefeld blieben wir mehrere Monate. Ich habe diesen Aufenthalt nicht genossen, denn wir mussten feststellen, dass unsere Anwesenheit bei einigen britischen Soldaten des Lagers einen latenten Antisemitismus zum Vorschein brachte. Auch wenn sich dieser Antisemitismus in der Regel nicht in Gewalttätigkeiten äußerte, waren wir doch solche Verhaltensweisen nicht gewohnt und hätten gut darauf verzichten können.

 

 

Nachwort des Herausgebers

 

Erich Bernheim, zuletzt Obergefreiter, hielt es nur noch ein knappes Jahr bei der britischen Armee. Danach arbeitete er zunächst wieder in seinem Beruf als Werkzeugmacher und absolvierte nebenher eine Ausbildung zum Maschinenbauer. Von 1951 bis 1969 war er dann als Assistent des Betriebsführers bei der Thames Plywood Manufacturing Company – einem Unternehmen, das Sperrholzplatten herstellte – im Londoner Vorort Barking tätig. In diesem Unternehmen war er unter anderem für das Rechnungswesen, die Produktentwicklung, Kostenberechnungen und Machbarkeitsstudien verantwortlich. 1954 heiratete er die 21-jährige Lucie Beran, eine Tochter des Betriebsführers. 1969 wechselte er als kaufmännischer Direktor zur Technical Panel Industries Ltd. in Braintree. Erich Bernheim starb am 1. Februar 1983 in einem Londoner Krankenhaus. – Im Mai 1950 hatte er noch einmal für eine Woche seine Heimatstadt Riedlingen besucht.

 

Seine Schwester Elisabeth Bernheim hatte von Oktober 1935 bis September 1936 die jüdische Frauenfachschule in Wolfratshausen besucht. 1937 ging sie nach Bad Freienwalde (Oder) und arbeitete dort für ein Jahr als Sprechstundenhilfe bei dem jüdischen Arzt Dr. Fritz Happ.[43] Anschließend besuchte sie das von der Jüdischen Gemeinde getragene Kindergärtnerinnenseminar der bekannten Pädagogin und Schriftstellerin Nelly Wolffheim in Berlin-Charlottenburg, bis diese Einrichtung am 1. März 1939 geschlossen wurde.[44] Im Juni 1939 konnte Elisabeth nach Edinburgh emigrieren. Hier übernahm sie von ihrer Riedlinger Cousine Eva Oettinger, die bereits im April 1938 über Berlin nach Großbritannien emigriert war, eine Stellung als Haushaltshilfe und Kindermädchen in einer schottischen Familie. 1943 zog sie nach Leeds, weil ihr Bruder Erich mittlerweile dort lebte, und arbeitete zunächst als Verkäuferin. 1949 begann sie in Leeds eine Ausbildung zur Hebamme. Diesen Beruf sollte sie dann fast 30 Jahre hindurch ausüben. Elisabeth Bernheim lebt heute 86-jährig in Leeds.

 

Der damals acht Jahre alte Kurt Bernheim kam im Mai 1939 mit einem der Kindertransporte nach England.[45] Nach Kriegsende lebte er in einem Heim in Manchester und absolvierte dort eine Bäckerlehre. Danach eröffnete er, zusammen mit einem Freund, eine eigene Bäckerei. Kurt Bernheim starb 1998 in Manchester.

 

Nach Kriegsende wussten die Kinder zunächst nichts über den Verbleib ihrer Eltern. Im September 1946 erhalten sie vom Suchdienst des Roten Kreuzes die Nachricht, dass ihr Vater Albert Bernheim mit dem ersten Transport jüdischer Einwohner nach Riga „verschoben“ worden sei und seitdem als vermisst gelte. Endgültige Gewissheit erlangen sie erst im April 1947 durch den Brief einer Überlebenden, Frieda Reinauer, geb. Holzinger aus Bayreuth. Albert und Irma Bernheim wurden am 1. Dezember 1941 von Stuttgart in das Konzentrationslager Jungfernhof bei Riga deportiert. Am 4. Dezember 1941 traf der Stuttgarter Transport in Riga ein. Hier wurde das Ehepaar durch Stacheldrähte für immer getrennt: Irma wurde dem Frauenlager und Albert dem Männerlager zugewiesen. Am 26. März 1942 wurde Irma Bernheim mit rund 1700 weiteren jüdischen Lagerinsassen, die man als arbeitsunfähig einstufte, unter einem Vorwand zu den Massengräbern im Bikernieker Hochwald gefahren und erschossen. Albert Bernheim blieb zunächst im Lager Jungfernhof, kam dann im Sommer 1942 in das Polizeihaftlager Salaspils und wurde schließlich im Juli 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet.[46]

 

Erschienen in: BC – Heimatkundliche Blätter für den Kreis Biberach Jg. 30, H. 1 (Juni 2007), S. 20-35.



[1] Der Text ergänzt meinen Beitrag „Zur Geschichte der Juden in Riedlingen“ im letzten BC-Heft, S. 38-65.

[2] Albert Bernheim, geb. am 23. April 1885 in Buchau, und Irma Bernheim, geb. Oettinger, geb. am 8. Juni 1893 in Riedlingen. Die Heirat erfolgte am 18. Oktober 1919 in Riedlingen. Nach der Heirat zog Albert Bernheim zu seiner Frau nach Riedlingen und trat als Gesellschafter in das Textilgeschäft ihrer Eltern ein.

[3] Dabei handelte es sich um das Textilgeschäft Ernst Oettinger am Marktplatz 15, das Albert und Irma Bernheim 1919 übernommen hatten.

[4] Das Lagerhaus des Textilgeschäfts befand sich in der Mühlgasse.

[5] Kurt Bernheim wurde am 19. Februar 1931 geboren (s. unten).

[6] Emma Oettinger, geb. Landauer (1859-1943).

[7] Der Kaufmann Jakob Bernheim und Elise Bernheim, geb. Bloch.

[8] Albert Bernheim hatte zwei Geschwister, die beide kurz nach ihrer Geburt starben: Pauline Bernheim, geb. am 5. August 1886 und gest. am 7. September 1886, sowie Julius Bernheim, geb. am 11. Februar 1889 und gest. am 25. Februar 1889.

[9] Der Kaufmann Ernst (Ezechiel) Oettinger und Emma Oettinger, geb. Landauer.

[10] Die zehn Kinder von Emma Oettinger waren Rosa, Hermine, Herbert Siegfried, Selma, Martha, Ludwig, Hugo, Irma, Flora und Siegfried. Von ihnen starb Rosa unmittelbar nach der Geburt, Flora im Alter von zwei Jahren und Hermine Oettinger im Alter von 15 Jahren.

[11] Der Kaufmann Louis Landauer, der in Stuttgart wohnte, feierte seinen 70. Geburtstag am 4. Mai 1928.

[12] Anna Baur, geb. Wurst (1881-1962). Sie war bereits im Februar 1912 mit ihrem Ehemann, dem Tagelöhner Albert Baur, und vier Kindern als Mieterin in die Mühlgasse 3 eingezogen und wohnte dort bis 1955.  Nach ihrem Einzug bekam sie noch fünf weitere Kinder.

[13] Letzterer befand sich auf der Mühlinsel.

[14] An die Familie von Herbert und Thekla Oettinger, die die Lebensmittelhandlung Karl Gaissmaier leiteten, hat sich Erich Bernheim nicht erinnert. Allerdings wohnte diese Familie auch nur von 1931 bis Anfang 1936, also knapp fünf Jahre, in Riedlingen.

[15] Entgegen der Erinnerung von Erich Bernheim hatte das jüdische Ehepaar David und Rosa Weil, von dem hier die Rede ist, eine kleine Tochter namens Frida, geb. am 29. März 1930 in Riedlingen.

[16] Herbert Siegfried Oettinger und Karoline Oettinger, geb. Mayer.

[17] Erich Bernheims Urgroßvater war Abraham Landauer, der sich 1871 in Riedlingen niederließ.

[18] Schwarzes Mus wurde und wird ein besonders in Süddeutschland und Österreich verbreitetes Gericht genannt, das aus Getreideschrot, Milch oder Wasser und Speckwürfeln besteht.

[19] An diesen Kaffeekränzchen waren u. a. Frieda Jaisle und Maria Lock, geb. Buz beteiligt.

[20] König Alexander I., der in Jugoslawien eine Königsdiktatur errichtet hatte, wurde am 9. Oktober 1934  von einem rechtsradikalen Kroaten erschossen.

[21] Da Hitler bekanntlich bereits am 30. Januar 1933 Reichskanzler wurde, hat Erich Bernheim hier die Reihenfolge der Ereignisse verwechselt.

[22] Der Arzt Dr. Siegfried Oettinger  (1897-1987), ein Bruder von Irma Bernheim, der in Rottweil ansässig war und 1937 mit seiner Familie nach Palästina emigrieren konnte.

[23] Die Internatsschule lag in dem kleinen Ort Västraby.

[24] Diese deutsch-jüdische Berufsschule in Berlin wurde von dem deutschen Verband des ORT getragen, dessen Anfänge in einer bereits 1880 im zaristischen Russland gegründeten Gesellschaft liegen, die sich der Förderung handwerklicher und landwirtschaftlicher Tätigkeiten unter den Juden verschrieben hatte. Heute hat der deutsche Verband des ORT seinen Sitz in Frankfurt am Main.

[25] Am 7. November 1938 schoss der polnische Jude Herschel Grynzspan auf den deutschen Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath, der zwei Tage später seinen Verletzungen erlag.

[26] Der mit Martha Oettinger verheiratete Kaufmann Hans Thanhauser, geb. am 3. Juni 1879 in Konstanz, wurde am 10. November 1938 in Konstanz verhaftet und am 4. Dezember 1938 im KZ Dachau ermordet.

[27] Der Verkauf des Textilgeschäfts Ernst Oettinger  erfolgte bereits am 1. Oktober 1938, also über einen Monat vor dem Novemberpogrom.

[28] Alexander Riempp war bereits am 1. Januar 1931 der NSDAP beigetreten. Von 1933 bis 1935 war er Kreisamtsleiter der nationalsozialistischen Handels- und Gewerbeorganisation. Als „hohes Tier“ der örtlichen Nazis konnte man ihn jedoch nicht bezeichnen.

[29] Albert und Irma Bernheim zogen am 10. Januar 1939 in die Wernlinstraße 6, ein Haus, in dem mit Ausnahme des Schlossers Weidle ausschließlich jüdische Familien wohnten. Erich Bernheims Großmutter Emma Oettinger dagegen wohnte mit ihrem Sohn Herbert Siegfried Oettinger in der Gustav-Siegle-Straße 41.

[30] Insgesamt fuhren an diesem Tag 102 Schüler und acht Lehrer mit ihren Familien nach England. Viele Schüler der Berliner ORT-Schule blieben auch nach dem Krieg miteinander in Verbindung.

[31] Geertruida Wijsmuller-Meyer (1896-1978), Tochter eines niederländischen Reeders, auch „Tante Truus“ genannt, organisierte seit 1938 von Amsterdam aus die Kindertransporte nach Großbritannien und rettete auf diese Weise tausenden jüdischen Kindern und Jugendlichen das Leben. Nach dem Krieg war sie von 1945 bis 1966 für die liberale „Volkspartij voor Vrijheid en Democratie“ (VVD) Mitglied des Amsterdamer Stadtrats.

[32] Hafenstadt an der Nordsee, nahe der belgischen Grenze.

[33] Die “Koningin Emma” war 1939 als Passagierschiff in Betrieb genommen worden. Von 1940 bis 1945 wurde sie unter dem Namen „HMS Queen Emma“ von der britischen Marine als Truppentransporter eingesetzt. Danach diente sie bis 1969 wieder als Fähre.

[34] Der schottisch-jüdische Oberstleutnant Joseph Henry Levey (1881-1970) hatte sich in den Kämpfen des Ersten Weltkriegs ausgezeichnet und um die Offiziersausbildung verdient gemacht. 1920 nahm er seinen Abschied von der Armee und wechselte wenig später in den britischen Kolonialdienst. Von 1925 bis 1931 war er Beauftragter für die westafrikanischen Kolonien (Nigeria, Goldküste, Sierra Leone) und Leiter des dortigen Nachrichtendienstes. Anschließend betätigte er sich führend in britisch-jüdischen Bildungs- und Sozialverbänden, darunter im ORT.

[35] Die Rowton Houses waren um 1900 von Lord Rowton als Herbergen für mittellose junge Arbeiter errichtet worden. Das Tower House, von dem hier die Rede ist, lag im Londoner East End.

[36] Das nach Feldmarschall Lord Kitchener (1850-1916) benannte Lager in dem kleinen Ort Richborough in der Grafschaft Kent war ein ehemaliges Armeelager und wurde Anfang 1939 – nach der Reichspogromnacht – als Übergangslager für zahlreiche deutsche und österreichische Flüchtlinge eingerichtet.

[37] Am Sonntag, den 3. September 1939, erfolgte – nach Hitlers Überfall auf Polen – die britisch-französische Kriegserklärung an das Deutsche Reich.

[38] Die ORT-Schule war in aller Eile in einer ehemaligen Scheune eingerichtet worden.

[39] Stadt im Südwesten von London.

[40] Die Stadt Forli liegt etwa 50 km nordöstlich von Rimini im Landesinneren.

[41] Brisighella liegt in der Emilia Romagna, an der Bahnstrecke von Ravenna nach Florenz.

[42] Die Kleinstadt Tarvisio (deutsch: Tarvis) liegt im Dreiländereck von Italien, Österreich und Slowenien, nur wenige Kilometer südlich von Villach.

[43] Happ konnte 1939 mit seiner Ehefrau nach Bolivien emigrieren. Vgl. Reinhard Schmook: Erinnerung an einstige jüdische Mitbürger, in: Märkische Oderzeitung vom 8.11.2006; erwähnt wird Happ auch in Irene Diekmann und Julius H. Schoeps (Hg.) Wegweiser durch das jüdische Brandenburg. Berlin 1995, S. 20.

[44] Vgl. hierzu Astrid Kerl-Wienecke: Nelly Wolffheim – Leben und Werk. Gießen 2000.

[45] Die vom Refugee’s Children Movement (RCM) organisierten Transporte nach England fanden von Dezember 1938 bis August 1939 statt. Vgl. zuletzt Mark Jonathan Harris und Deborah Oppenheimer: Kindertransport in eine fremde Welt. München 2000 (mit weiteren Literaturangaben).

[46] Vgl. hierzu auch Marie Zelzer: Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Ein Gedenkbuch. Stuttgart 1964, S. 223 ff.